Im Juli-Tempest hatte ich einen Klappentext besprochen. Die Autorin hat ihn jetzt umgeschrieben. Spannend, zu sehen, wie die neue Version besser wirkt – und warum
Albtraum Traumgewicht – Mein Weg aus dem Dickicht von Essstörung und Therapien, Version II
Traumgewicht als Flucht und Illusion
Aus dem Spieglein an der Wand sprach die Böse Königin Anorexia zu mir:
„Du bist nicht die Schönste und Klügste im ganzen Land! Du bist zu dick!“
Ich nahm mir die Worte der Bösen Königin zu Herzen und aß immer weniger, bis ich sehr krank war.
„Zu dick! Zu dünn! Zur Strafe sollst Du nun auch gestört sein!“
Die Böse Königin hexte mir Stimmen in den Kopf. Jetzt konnte sie immer und überall auf meine Gedanken zugreifen und mich steuern …
Zeigt allen, die in einer Essstörung gefangen sind, dass es auch aus dem tiefsten Abgrund einen Weg zurück ins Leben geben kann.
Mein Albtraum beginnt zu verblassen …
Sabine Henkes (23) lebt in Berlin und kämpft seit Jahren mit ihrer Magersucht und den Folgeschäden.
Heute lebt sie ein maßvolles, bescheidenes und oft zuversichtliches Leben.
Lektorat
Erinnern Sie sich noch an den Klappentext aus dem Juli-Tempest? Die Autorin hat jetzt eine neue Version vorgelegt, die sie oben lesen.
Und was ist der Unterschied zur Alten? Kramen Sie einmal den alten Tempest hervor und lesen Sie sich diese Fassung. Was ist Ihrer Meinung nach der Unterschied? Was ist besser, was schlechter?
Der Hauptunterschied ist die Königin Anorexia. Au einem allgemeinen Klappentext über Magersucht ist eine Geschichte geworden. Die Magersucht wurde zur Bösen Königin und damit entsteht ein Bild. Diese Technik, aus Allgemeinem bekannte Geschichten zu machen, ist nicht nur im Klappentext wirkungsvoll. Schon Kafka kannte sie und schrieb nicht über bedrückende Familienverhältnisse, sondern verwandelte den Sohn der Familie in ein riesiges Ungeziefer. Ein Bild sagt mehr als viele allgemeine Worte.
Diese Böse Königin handelt. Sie kann ihre Opfer besprechen, übt Macht aus. Und kennen wir nicht die Macht der Worte und Bilder, die uns vorgaukeln, dass nur die schön ist, die jede Sekunde auf ihr Gewicht achtet? Der Klappentext erzählt uns eine kurze Geschichte und durch diese Geschichte entwickelt er im Leser eine Vorstellung davon, um was für ein Buch es sich handelt.in die We
Dass es ein anschauliches Bild, eine Variante einer bekannten Geschichte ist, lockt zum Lesen. Der Leser erwartet keine trockene Abhandlung über Magersucht und verwandte Krankheiten, medizinisch korrekt und wissenschaftliche unverständlich formuliert. Er erwartet auch keine Betroffenheitsliteratur voller Klagen.
Sondern eine lebendige Geschichte, wie die Autorin zur Gefolgsfrau der Bösen Königin wurde und wie sie ihr dann doch die Gefolgschaft aufkündigen konnte.
Show, don’t tell (Zeigen, nicht behaupten) gilt auch für Klappentexte und Exposés. Das sollten Autorinnen und Autoren nie vergessen. Schreiben Sie Ihre Werbetexte anschaulich, lassen Sie die Leser sie erleben und die Leser werden eine bessere Vorstellung Ihres Buches gewinnen, als wenn Sie vollmundige Behauptungen auf den Umschlag schreiben.
Details
Was halten Sie von dem Abschnitt ziemlich am Ende:
Zeigt allen, die in einer Essstörung gefangen sind, dass es auch aus dem tiefsten Abgrund einen Weg zurück ins Leben geben kann.
Mein Albtraum beginnt zu verblassen …
Das sind zwei Sätze mit unterschiedlicher Funktion. Der Erste beschreibt die Funktion des Buches. Es will allen mit Essstörungen zeigen, dass es auch aus dem tiefen Kerker der Königin Anorexia einen Ausweg gibt. Das wäre ein guter Schlusssatz des Klappentexts.
Aber hier ist der Schlusssatz: »Mein Alptraum beginnt zu verblassen«. Das gehört vor den Schlusssatz, es soll zeigen, dass die Autorin ihren Weg heraus gefunden hat. Noch ist das wenig anschaulich. Ich würde die Reihenfolge also umstellen und den Satz umformulieren:
Doch auch die Königin ist nicht allmächtig und ich fand einen Weg aus ihrem Kerker. Mein Alptraum beginnt zu verblassen.
Das Buch zeigt allen, die in einer Essstörung gefangen sind, dass es auch aus dem tiefsten Abgrund einen Weg zurück ins Leben geben kann.
Wenn Ihr anderer Meinung seid oder etwas zu diesem Beispiellektorat beitragen wollen, scheut Euch nicht, es mir zu mailen oder in FB zu kommentieren! Ihr könnt auch eure Texte für ein solches Beispiellektorat vorschlagen.
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Spannung – der Unterleib der Literatur
Die hohe Kunst, den Leser zu fesseln und auf die Folter zu spannen
http://www.hanspeterroentgen.de/spannung-1.html