Klappentextlektorat August 2016

Im Juli-Tempest hatte ich einen Klappentext besprochen. Die Autorin hat ihn jetzt umgeschrieben. Spannend, zu sehen, wie die neue Version besser wirkt – und warum

Albtraum Traumgewicht – Mein Weg aus dem Dickicht von Essstörung und Therapien, Version II

Traumgewicht als Flucht und Illusion

 Aus dem Spieglein an der Wand sprach die Böse Königin Anorexia zu mir:

„Du bist nicht die Schönste und Klügste im ganzen Land! Du bist zu dick!“

 Ich nahm mir die Worte der Bösen Königin zu Herzen und aß immer weniger, bis ich sehr krank war.

 „Zu dick! Zu dünn! Zur Strafe sollst Du nun auch gestört sein!“

Die Böse Königin hexte mir Stimmen in den Kopf. Jetzt konnte sie immer und überall auf meine Gedanken zugreifen und mich steuern …

Zeigt allen, die in einer Essstörung gefangen sind, dass es auch aus dem tiefsten Abgrund einen Weg zurück ins Leben geben kann.

Mein Albtraum beginnt zu verblassen …

 

Sabine Henkes (23) lebt in Berlin und kämpft seit Jahren mit ihrer Magersucht und den Folgeschäden.

Heute lebt sie ein maßvolles, bescheidenes und oft zuversichtliches Leben.

Lektorat

Erinnern Sie sich noch an den Klappentext aus dem Juli-Tempest? Die Autorin hat jetzt eine neue Version vorgelegt, die sie oben lesen.

Und was ist der Unterschied zur Alten? Kramen Sie einmal den alten Tempest hervor und lesen Sie sich diese Fassung. Was ist Ihrer Meinung nach der Unterschied? Was ist besser, was schlechter?

Der Hauptunterschied ist die Königin Anorexia. Au einem allgemeinen Klappentext über Magersucht ist eine Geschichte geworden. Die Magersucht wurde zur Bösen Königin und damit entsteht ein Bild. Diese Technik, aus Allgemeinem bekannte Geschichten zu machen, ist nicht nur im Klappentext wirkungsvoll. Schon Kafka kannte sie und schrieb nicht über bedrückende Familienverhältnisse, sondern verwandelte den Sohn der Familie in ein riesiges Ungeziefer. Ein Bild sagt mehr als viele allgemeine Worte.

Diese Böse Königin handelt. Sie kann ihre Opfer besprechen, übt Macht aus. Und kennen wir nicht die Macht der Worte und Bilder, die uns vorgaukeln, dass nur die schön ist, die jede Sekunde auf ihr Gewicht achtet? Der Klappentext erzählt uns eine kurze Geschichte und durch diese Geschichte entwickelt er im Leser eine Vorstellung davon, um was für ein Buch es sich handelt.in die We

Dass es ein anschauliches Bild, eine Variante einer bekannten Geschichte ist, lockt zum Lesen. Der Leser erwartet keine trockene Abhandlung über Magersucht und verwandte Krankheiten, medizinisch korrekt und wissenschaftliche unverständlich formuliert. Er erwartet auch keine Betroffenheitsliteratur voller Klagen.

Sondern eine lebendige Geschichte, wie die Autorin zur Gefolgsfrau der Bösen Königin wurde und wie sie ihr dann doch die Gefolgschaft aufkündigen konnte.

Show, don’t tell (Zeigen, nicht behaupten) gilt auch für Klappentexte und Exposés. Das sollten Autorinnen und Autoren nie vergessen. Schreiben Sie Ihre Werbetexte anschaulich, lassen Sie die Leser sie erleben und die Leser werden eine bessere Vorstellung Ihres Buches gewinnen, als wenn Sie vollmundige Behauptungen auf den Umschlag schreiben.

 Details

 Was halten Sie von dem Abschnitt ziemlich am Ende:

Zeigt allen, die in einer Essstörung gefangen sind, dass es auch aus dem tiefsten Abgrund einen Weg zurück ins Leben geben kann.

Mein Albtraum beginnt zu verblassen …

 Das sind zwei Sätze mit unterschiedlicher Funktion. Der Erste beschreibt die Funktion des Buches. Es will allen mit Essstörungen zeigen, dass es auch aus dem tiefen Kerker der Königin Anorexia einen Ausweg gibt. Das wäre ein guter Schlusssatz des Klappentexts.

Aber hier ist der Schlusssatz: »Mein Alptraum beginnt zu verblassen«. Das gehört vor den Schlusssatz, es soll zeigen, dass die Autorin ihren Weg heraus gefunden hat. Noch ist das wenig anschaulich. Ich würde die Reihenfolge also umstellen und den Satz umformulieren:

Doch auch die Königin ist nicht allmächtig und ich fand einen Weg aus ihrem Kerker. Mein Alptraum beginnt zu verblassen.

Das Buch zeigt allen, die in einer Essstörung gefangen sind, dass es auch aus dem tiefsten Abgrund einen Weg zurück ins Leben geben kann.

Wenn Ihr anderer Meinung seid oder etwas zu diesem Beispiellektorat beitragen wollen, scheut Euch nicht, es mir zu mailen oder in FB zu kommentieren! Ihr könnt auch eure Texte für ein solches Beispiellektorat vorschlagen.


Spannung – der Unterleib der Literatur
Die hohe Kunst, den Leser zu fesseln und auf die Folter zu spannen
http://www.hanspeterroentgen.de/spannung-1.html

 

Klappentextlektorat August 2016

Die wunderbare Vermehrung der Partizipien

Er griff nach der vor dem Bett verknüllt liegenden Hose.

Solche Partizip-Konstruktionen sind in den letzten Jahren im Deutschen zur Mode geworden. Ich weiß nicht, in wie vielen Manuskripten ich bereits derartige Formulierungen gelesen habe. Dabei lässt sich das weiteleganter und einfacher sagen:

Er griff nach seiner verknüllten Hose

Oder, wenn wichtig wäre, dass die Hose vor dem Bett liegt:

Er griff nach seiner Hose, die vor dem Bett lag.

wahlweise auch:

Er griff nach seiner Hose vor dem Bett.

Leider finden sich solche Konstruktionen mittlerweile auch in veröffentlichten Büchern – egal, ob von Selfpublishern oder Verlagen.

Partizipien im Lateinischen wirken elegant. Wer – wie ich – noch ein humanistisches Gymnasium mit ausführlichem Lateinunterricht besucht hat , erkennt Lateinlehrer meist nach dem ersten Satz. An den ausgefeilten Partizipialkonstruktionen in den deutschen Texten mit lateinischer Grammatik.Heute dürfte eher das Englische an der wundersamen Vermehrung der Partizipien schuld sein. Und die Bequemlichkeit. Mit Partizipien lassen sich schnell noch zusätzliche Informationen in einen Satz packen, ohne dass man sich lange Gedanken machen muss:

Ohne die bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten eines Blickes zu würdigen

Da wird die Information reingequetscht, dass die Toten bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind. „Partizipkonstruktionen“ sind das Mittel der Wahl, um den Leserinnen und Lesern unnütze Details mitzuteilen. Denn wie viele Tote verbrennen schon so, dass man sie auf Anhieb wiedererkennt?

Hier noch ein Beispiel:

Im Gang knieten drei Menschen mit auf den Rücken gefesselten Händen.

Klingt das elegant? Dabei lässt sich auch dieser Satz leicht verbessern:

Im Gang knieten drei Menschen, die Hände auf den Rücken gefesselt .

Die Beispiele zeigen ein Problem, das Partizipien im Deutschen mit sich bringen können. Das Deutsche verwendet Artikel. Und wenn ich eine umfangreichere Information in eine Partizipkonstruktion setze, dann werden der Artikel und das dazu gehörige Substantiv weit auseinandergerissen:

Die mit schwarzen Gesichtern versehenen und zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten

Sagen Sie nicht, sowas würde niemand schreiben. Mir flattern täglich Texte auf den Schreibtisch, die das Gegenteil beweisen. Ein weiteres Beispiel:

Ihre mit Klappern und Klirren verbundene Betriebsamkeit in der Küche versprach ein baldiges, wenn auch karges Frühstück.

Da stehen fünf Wörter zwischen dem Artikel und dem dazugehörenden Substantiv.

Ach ja, haben Sie es gemerkt? Ich habe selbst eine „Partizipkonstruktion“ verwendet: „das dazugehörende Substantiv“. Aber ich habe mich auf ein Partizip beschränkt und nicht noch weitere Infos dazugepackt. „Das sich mit zusätzlichen Infos aufblähende dazugehörende Substantiv“ wäre eine problematische Formulierung. Übrigens lässt sich auch unser Frühstücksbeispiel leicht verbessern:

In der Küche klapperten Teller, klirrte Besteck und versprachen ein baldiges, wenn auch karges Frühstück .

Vorteil: Durch die aktiven Verben wirkt der Satz nicht nur dynamischer, liest sich auch leichter.

Warum sind Partizipien problematisch?

Einen Grund habe ich bereits genannt: Wenn die Konstruktion aus mehreren Wörtern besteht, leidet die Verständlichkeit, weil zwischen Artikel und dazugehörigem Wort eine Menge Infos eingeklemmt werden. Die Leserinnen und Leser müssen verklemmte Konstruktionen entschlüsseln.

Ein weiterer Grund liegt darin, dass als Partizipien gerne Wörter verwendet werden, die Hilfsverben ähneln. Zum Beispiel „die vor dem Bett liegende Hose“. Oder: „Das bereits vor Stunden begonnene Kochen des Mittagsessens.“

Oft haben die Partizipien wenig oder gar keine Aussagekraft. Das Mittagessen kochte bereits seit Stunden und die Hose vor dem Bett sind eleganter und auch verständlicher.

Der dritte Grund folgt aus dem Zweiten. Diese Konstruktionen blähen den Text auf, er gibt sich wichtiger, als er ist. Wirkt pompöser. Viele Partizipien gehören zu den Füllwörtern und lassen sich ersatzlos streichen.

Mit Partizipien können Sie eine „wundervolle“ Bürokratensprache produzieren:

Die hier gemeldete, und unter dem Spitznamen Rotkäppchen allseits bekannte Person, mit einem rot gefärbten, auf dem Kopf getragenem Kleidungsstück

ist eine Sprache, mit der Sie alle, die Bücher schätzen und viel lesen, davon abhalten können, Ihre mit viel Mühe erstellten Werke zu genießen.

In einem Polizeibericht wäre eine derartige Aufzählung sinnvoll, dort muss alles erwähnt werden. In einer Geschichte ist sie Gift.

Die Dosis macht das Gift

Also lieber gar keine Partizipien verwenden? Bei Schreibregeln kommt es immer auch auf die Dosis an. Kontrollieren Sie einfach, wie viele Partizipien Sie verwenden. Nehmen Sie zwei Seiten aus Ihren Texten und streichen Sie jedes Partizip an. Wie viele sind es? Eins pro Seite? Oder eins pro Satz?

Verwenden Sie mehr als ein oder zwei Wörter zwischen Artikel und Substantiv? Ausufernde Wortungetüme sollten Sie ausdünnen. Entweder durch Relativsätze – da dürfen Sie dann ausführlicher schreiben – oder Sie überführen das Partizip in eine aktive Verbform.

Ihr Hans Peter Roentgen

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Partizip
http://www.mein-deutschbuch.de/lernen.php?menu_id=69

Aus: Federwelt April 2016

PS: *In der Fachliteratur spricht man von „Partizipialkonstruktionen“, ich habe den Begriff „Partizipkonstruktionen“ gewählt,

 

Die wunderbare Vermehrung der Partizipien

Berliner Binnenschifffahrt

Die Kassiererin hat ein Verhältnis mit dem Fährmann. Deshalb kommt die Fährmannsfrau nicht auf die Fähre, wenn die Kassiererin kassiert. Ihr Zimmer geht jetzt nach hinten raus, mit Blick aufs Dorf. Früher hatte sie eins nach vorne und hat den Blick auf den Kanal genossen. Doch da ist jetzt die Kassiererin und ihr Anblick ist kein Genuss. Jedenfalls nicht für die Fährfrau.

Früher hat sie aus dem Fenster (das auf den Kanal hinaus) die dicken Jachten beobachtet, wie die Kapitäne sie stolz durch den Kanal steuerten. Die Kapitäne rochen nach Geld, selbst oben im Fenster nahm sie das wahr. Die Bäuche wurden durch das Cockpit verdeckt und das war auch besser so.

Sie hätte gerne mit einem davon ein Verhältnis gehabt. Der Bauch hätte sie nicht gestört. Er hätte sie in vornehme Restaurants ausgeführt statt in Willis Wurstparadies und irgendwann wäre sie in der Presse gestanden. Als die neue Begleitung von Schweini oder so. Obwohl, der ist zu jung und noch hat er keinen Bauch. Hat er eine Jacht?
Jetzt geht ihr Fenster nach hinten heraus und dort sieht sie nicht aufs Wasser, sondern auf die Küche von Willis Wurstparadies. Sie hat ein Verhältnis mit dem Koch angefangen. Doch der kommt erst spät in ihr Bett, ist dann müde und schläft sofort ein. Schnarchen tut er auch. Sie findet, dass Verhältnisse weit überschätzt werden.

Sie hat dem Koch empfohlen, sich anderweitig umzusehen. Der war beleidigt und hat gekündigt. Der Wirt hat ihrem Mann eine Szene gemacht, der Koch war ein guter Koch und die Gäste beschweren sich jetzt. Willis Wurstparadies sei nicht mehr, was es mal war.

»Was soll ich tun?«, hat ihr Mann, der Fährmann, gefragt.
»Vielleicht sollten Sie ihrer Frau gut zureden«, hat der Wirt vorgeschlagen.

Der Fährmann hat seiner Frau gut zugeredet und die Qualitäten des Kochs in den höchsten Tönen gelobt. Im Bett und in der Küche.
»Schlaf du doch mit ihm«, hat sie gesagt.
»Das geht nicht«, hat er geantwortet. »Dann ist die Kassiererin sauer und kündigt.«

Jetzt hat der Wirt den beiden die Wohnung gekündigt. Ihr Mann ist auf sie sauer und die Kassiererin auch. Seitdem wohnen sie in der Siedlung und ihr Fenster schaut auf den Wald. Der Wald gefällt ihr besser als die Küche.

Sonntags rauschenb die dicken Wagen vorbei mit dicken Männern am Steuer. Sie träumt davon, dass einer mit ihr ein Verhältnis anfängt. Einer, der nicht einschläft und nicht pupst.

Erstellt auf einem Workshop der Manuskriptur Babara Tauber

Berliner Binnenschifffahrt