Helikopter-Autoren, lasst eure Kinder frei!

Barbara Sukowa spielte Rosa Luxemburg im Film von Margarethe von Trotta. Noch vier Wochen danach hinkte sie, wie Rosa Luxemburg gehinkt hatte. Sprach mit polnischem Akzent.

Dann spielte sie Hanna Arendt. Sprach ihr Amerikanisch plötzlich mit deutschem Akzent wie Hanna Arendt, obwohl sie akzentfreies Amerikanisch spricht. Brachte damit ihre Familie zur Verzweiflung.

Romanfiguren von außen betrachtet sind langweilig

Genau das fehlt in vielen Texten, die mir zugeschickt werden. Die Autoren wissen oft gar nicht, wie ihre Figuren ticken, wie sie reden, wie sie sich bewegen. Sie schauen von außen auf ihre Figuren und erzählen etwas über sie. Sie sprechen nicht wie eine polnische Jüdin, die aus dem Zarenreich ins Deutsche Reich flüchtet, im Gefägnis saß und erfüllt ist davon, dass der Sozialismus nicht nur die Ausbeutung, sondern auch den Antisemitismus beseitigen wird.

Sie erzählen mir: Rosa Luxemburg war eine polnische Jüdin. Aber lassen sie nicht leben. Kriechen nicht in die Figur. Verwandeln sich nicht in sie, sehen die Welt nicht durch ihre Augen. Und produzieren so langweilige Texte.

Geben Sie die Personen frei

Mein Rat in solchen Fällen ist immer der gleiche. Lass deine Figur sprechen. »Hallo, ich bin Rosa Luxemburg. Seit vier Jahren sitze ich im Gefägnis, weil ich gegen den Krieg geredet habe. Mein einziger Gefährte ist ein Rabe …«

Interviewen Sie Ihre Figuren, wenn sie Ihnen noch fremd bleiben. »Bist du verliebt? Warst du schon mal verliebt? Würdest du deinen Geliebten aufgeben, um damit der Revolution zum Sieg zu verhelfen?« Jede Frage ist erlaubt. Vor allem die peinlichen.

Schauen Sie sich den Film Rosa Luxemburg an. Wie die Sukowa sich in Rosa Luxemburg verwandelt, obwohl diese klein und dunkelhaarig war, Barbara Sukowa groß und blond und ihr Äußeres so gar nicht an eine polnische Jüdin erinnert. Aber die Zuschauer glauben ihr die Rosa Luxemburg, weil sie sich in diese Person verwandelt.

Zu einer Person gehören auch die negativen Seiten. Die Widersprüche. Wie verhält sich die Person im privaten Umfeld? Was gibt es, was sie nicht mal ihrer besten Freundin gestehen würde?

Und vor allem: Lassen Sie Ihre Personen von der Leine. Sie sind nicht Ihre Marionetten, liebe Autorinnen und Autoren. Sie müssen ein eigenes Leben führen, einen eigenen Willen gewinnen. Das ist schwer zu erdulden. Welche Eltern lassen ihre Kinder gerne gehen, wenn sie erwachsen werden? Und genauso halten viele Autoren ihre Figuren fest. Vertrauen ihnen nicht. Spielen Helikopter-Autoren.
Trauen Sie sich, ihnen die Freiheit zu geben. Sie werden es Ihnen danken. Weil die eigenen Wege der Personen die spannendsten sind, denn nicht mal der Autor hat sie vorhergesehen. Weil Leser sich für lebendige Personen interessieren, nicht für Holzpuppen an den Fäden der Erzeuger.

Masterclass „Moving history“

Und wer jetzt fragt, woher ich diese Weisheiten habe: Ich war heute an der Filmuniversität Potsdam-Babelsberg. Eine Masterclass mit Margarethe von Trotta, mit Beispielen aus vier Filmen von ihr. Neben Rosa Luxemburg, Hanna Arendt auch aus Hildegard von Bingen und Rosenstraße.

Rosenstraße ist ein unbekanntes Detail aus der Nazizeit. 1943 ließ Goebbels die Juden verhaften, die mit »arischen Frauen« verheiratet waren. Die hatten bis dahin einen gewissen Schutz durch die Ehefrauen. Und diese taten, was sich wenige im dritten Reich trauten. Sie versammelten sich vor dem Gefängnis, es wurden immer mehr, die SS versuchte, sie einzuschüchtern, was nicht gelang. Schließlich wurde das Ganze Goebbels zu heiß und die Männer kamen frei. In seinem Tagebuch vermerkte der Propagandaminister, er werde sie später einzeln erledigen lassen. Dazu kam es nicht mehr, den Alliierten sei Dank.

Die Frauen demonstrierten nicht aus einem politischen Grund. Weswegen in der DDR dieses Ereignis nicht interessierte. Wären es aufrechte Kommunistinnen gewesen voller Glut für den Kommunismus, die sich dort auf Anordnung der Partei versammelten, hätte man ihnen Denkmäler errichtet. Doch Frauen, die aus Liebe zu ihren Männern … Also nein, wen interessiert das schon. Die Bundesrepublik erinnerte sich damals sowieso ungern an die Menschen, die sich nicht anpassten.

»Mich interessieren Personen, nicht Themen«, sagt die Regisseurin dazu. »Ich möchte sie verstehen. Wie sie mit den Zwängen ihrer Zeit umgehen. Passen sie sich an? Wenn ja, was entwickelt sich daraus? Oder widersetzen sie sich?«

Sich mit Filmdramaturgie zu beschäftigen, lohnt sich für jeden Autor.

Margarethe von Trotta

Sie stammt von deutschbaltischen Eltern, die vor der russischen Revolution fliehen mussten. Und danach keine Staatsangehörigkeit mehr hatten, nur noch den „Nansenpass“. Sie selbst wurde zwar in Deutschland geboren, erhielt aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, weil ihre Eltern diese nicht besaßen. Sie lebte auch jahrelang mit einem „Fremdenpass“, musste jedesmal, wenn sie nach Frankreich wollte, ein Visum beantragen und ein Durchreisevisum für Belgien. Erst durch ihre Heirat erwarb sie den deutschen Paß.

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Spannung – der Unterleib der Literatur
Die hohe Kunst, den Leser zu fesseln und auf die Folter zu spannen

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Der Absatz – das unbekannte Wesen

Die Hälfte der Texte, die ich zur Korrektur bekomme, hat zu wenig Absätze. Selbst viele Textprofis leiden oft unter dem, was Mediziner die „chronische Absatzscheu“ nennen. Manche legen sogar Texte mit mehreren Seiten ohne jeden Absatz vor.

Die Begründung: „Das ist doch der Job der Lektoren“. So kann man es natürlich auch sehen. Nur darf man sich dann keiner wundern, dass niemand seine Texte zu Ende liest.

Auch in Stilratgebern und Schreibbüchern sucht man Rat zur Absatzgestaltung meistens vergeblich.

Dabei ist es gar nicht so schwierig. Denn es gibt es ein paar Faustregeln. Natürlich sind die nicht in Stein gemeißelt und dienen, wie die Zeichensetzung auch, der einfacheren Lesbarkeit (Ja, ja, ich weiß, die Zeichensetzung dient der Rechtschreibung, den Grammatikregeln, den Kultusministern, laut Günther Grass der deutschen Literatur und erst ganz zum Schluss dann der Lesbarkeit!).

Die Faustregeln:

Absätze werden gemacht:
– Wenn der Sprecher wechselt
– Wenn die Perspektive wechselt
– Vor und nach Flashbacks
– Wenn eine Beschreibung endet und die Handlung einsetzt
– Wenn eine neue Person die Bühne betritt

Wozu Absätze?

Absätze sind wie Sätze, Szenen und Kapitel Gliederungsmöglichkeiten. In der Regel enthält ein Absatz mehrere Sätze und eine Szene mehrere Absätze. Eigentlich ist das selbstverständlich, aber wenn Sie wüssten, was ich schon alles in Texten erlebt habe!

Dabei ist der Absatz als Gliederungselement noch viel wichtiger als der Satz und bietet auch weit mehr Möglichkeiten, als die Lesbarkeit sicher zu stellen. Denn Absätze bestimmen Rythmus und Tempo eines Textes. Sie sind ein ganz wesentliches Element, das den Stil festlegt.

Nehmen Sie sich einfach mal verschiedene Bücher aus eurem Regal, schlagen Sie sie an beliebiger Stelle auf und schauen Sie sich an, wie auf diesen beiden Seiten die Absätze verteilt sind.

Wann soll man Absätze machen?

Auf jeden Fall, wenn der Sprecher wechselt.

Kurz bevor sie bei Thomas ankamen, hörte Josef eine Stimme. „Sei vorsichtig, Thomas will dich reinlegen!“ Erschrocken drehte Josef sich um. Es war niemand zu sehen.“ „Wer hat das gesagt?“, fragte er ängstlich. „Ich war das.“, antwortete der Esel.

Das ist einfach schwierig zu lesen und noch schwieriger zu verstehen. Aber ein Absatz hinter dem jeweiligen Sprecherwechsel und schon ist es einfach viel klarer:

Kurz bevor sie bei Thomas ankamen, hörte Josef eine Stimme. „Sei vorsichtig, Thomas will dich reinlegen!“
Erschrocken drehte Josef sich um. Es war niemand zu sehen. „Wer hat das gesagt?“, fragte er ängstlich.
„Ich war das“, antwortete der Esel.

Wohlgemerkt, hier steht kein Absatz nach „Es war niemand zu sehen“. Denn das, was folgt, sagt immer noch Josef. Ein Absatz ist hier nicht nötig.  Macht einmal das Experiment, den Text mit und ohne Absatz zu lesen. Was ändert sich dann am Rythmus, an der Stimmung des Textes? Welche Fassung würdet ihr vorziehen?

Wie beim Sprecherwechsel gehört ein Absatz natürlich immer dorthin, wo die Perspektive oder Handlung wechselt und insbesondere, wenn der Text von einer Beschreibung zur Handlung übergeht.

Die Burg glänzte schwarz, als wäre sie frisch lackiert worden. Der Burgfried ragte so hoch, dass er die Wolken am Bauch kitzeln konnte. Das Tor war verschlossen und verriegelt, die Zugbrücke hochgezogen.
Plötzlich öffnete sich ein Fenster und ein hölzerner Kuckuck schnellte heraus.

Was wäre, wenn man das alles in einem Absatz schreiben würde?

Ganz einfach: Dann würde der Kuckuck längst nicht so überraschend kommen. Mit Absätzen nimmt man auch eine Betonung vor. Generell sollte ein Absatz natürlich überall erfolgen, wo etwas Neues im Text erscheint. Absätze gliedern einen Text und damit die Gedanken, die Erzählung der Autoren.

Wirkung von Absätzen

Je mehr Absätze ein Text hat, desto „aktiver“, „einfacher“ und „temporeicher“ wirkt er. Deshalb haben Actionszenen und Dialoge meist sehr viele Absätze, im Extremfall sogar mit nur einem Satz.

Er rammt den Rückwärtsgang rein.
Stieß zurück, erster Gang, Vollgas.
Die Reifen drehten durch. Fassten endlich.
Das Tor zersplitterte und sie waren durch.

Umgekehrt wirken Texte mit wenigen Absätzen eher „ruhig“ oder „schwierig“. Logischerweise haben Beschreibungen, philosophische Erörterungen etc. auch durchaus mal Absätze mit einer halben Seite. Mehr würde ich einem Leser nur in begründeten Ausnahmefällen zumuten.

Warnung

Bei vielen Wettbewerben gibt es eine Seitenbegrenzung. Bei Überschreitung liegt die Versuchung nahe, einfach Absätze wegzulassen und so den Text auf die Begrenzung zu kürzen.

NEIN! Das sollte man nie, nie, nie tun. Denn dadurch verliert euer Text so viel, dass die Chancen auf den Nullpunkt schwinden. Ein Text mit ungenügender Gliederung, mit zu wenig Absätzen wirkt dilettantisch. Da kann die Geschichte selbst noch so gut sein.

Lieber sich überlegen: Welchen Teil der Erzählung könnte man ganz weglassen?

Womit wir wieder bei der „chronischen Absatzscheu“ wären. Man kann natürlich auf die Lektoren hoffen. Ich halte das für keine gute Idee. Denn Absätze sind ein wichtiges Stilmittel und das sollte kein Autor aus der Hand geben.

Stephen King

Stephen King schreibt in „Das Leben und das Schreiben:

Ich bin der Meinung, dass nicht der Satz, sondern der Absatz die kleinste Einheit eines Textes darstellt, in der Kohärenz entsteht und Wörter die Chance haben, über sich hinauszuwachsen. Wenn es Zeit wird, das Tempo zu erhöhen, geschieht das auf Absatzebene. (S151).

Und dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.

Leerzeilen – wann setzen?

 

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Krimis machen in der heilen Welt der Literatur

In Geschichten – und besonders in Krimis – ist oft das interessant, was nicht gesagt wird. Was zwischen den Zeilen steht und nur manchmal aufploppt. Die Leiche im Keller der heilen Reihenhauswelt.

Anfang September gab es die Tagung »Krimis machen 3« in Hamburg. Die dritte Veranstaltung, die sich mit den Problemen rund um Krimis schreiben und der Position des Krimis auf dem Buchmarkt beschäftigt. Ich habe alle drei besucht und fand alle drei inspirierend. Und doch gibt es, gab es einen seltsamen Effekt.

Publikum und Diskussionsteilnehmer kamen aus der gleichen Filterblase. Das wurde natürlich nie angesprochen. Fast nie. Nur Thomas Wörtche wies in seinem Einführungsvortrag darauf hin, dass man Mainstream-Krimis nicht einfach beiseitelassen könne, schließlich würden diese von vielen gelesen.

Doch sonst erwähnte niemand die Welt außerhalb des literarischen Krimis. Außer in Beschwörungen. Damit wolle doch hier niemand etwas zu tun haben. Eine Welt voller Teufel, über die man besser nicht reden solle. Sozusagen die Voldemorts des Krimis. Ab und zu wurden sie dann doch genannt: Agathe Christie heißt die Oberteufelin und  Sebastian Fitzek und Rita Falk sind die Unterteufel. Abschreckende Beispiele.

Warum sind die so teuflisch? Darüber herrschte Einigkeit, diese Krimis schreiben Romane aus der heilen Welt: Ein Verbrechen geschieht, der Kommissar klärt es auf und danach ist die Welt wieder heil. Weswegen man so etwas nicht diskutieren muss, ja besser gar nicht diskutieren sollte. Es könnte ja ansteckend sein.

Damit werden 90% des Buchmarkts ausgeschlossen aus der Diskussion. Ich muss Agathe Christie ja nicht toll finden, aber es wäre interessant, sich zu fragen, warum sie Erfolg hatte. Und ihre Nachfolger immer noch massenhaft gekauft werden. Ist es tatsächlich der Wunsch nach der heilen Welt? Können wir uns davonstehlen, in dem wir diese Theorie zwischen den Zeilen stehen lassen, aber nie begründen?

Auch der harmloseste Landhauskrimi in der heilsten Vorstadtwelt braucht eine Leiche. Am besten im Keller eines angesehenen Bürgers. Und selbst wenn der Täter am Schluss verhaftet wird, alles wieder gut ist: So heil ist die Welt dann nicht mehr. Ganz im Gegenteil, wir wissen jetzt, dass auch in den heilsten aller heilen Welten Leichen im Keller lagern, die gerne übersehen werden. Um den Anschein »Alles ist gut« nicht zu stören.

Wie geht man im Mainstream damit um? Wäre eine interessante Frage. Doch daran kranken die Diskussionen der Anhänger des literarischen Krimis. Da werden dann lieber Fragestellungen diskutiert, die in einem germanistischen Seminar ihren Platz haben.

Solche Fragestellungen haben ein Problem: Sie sind allgemein. Und man kann allgemein darüber sprechen. Im siebten Himmel der Theorie. Ohne auf Beispiele einzugehen. Da kann man spekulieren, ob Autoren, die physische Gewalt erfahren haben, überhaupt darüber schreiben können. Wenn die Praxis – welche Autoren schaffen es und wie, welche nicht und warum? – nicht mit einfließt, tauscht man blutleere Glaubenssätze aus.

Im Fall von »Krimis machen 3« blieb man an der Oberfläche. Und die Beiträge plätscherten so dahin. Mit zwei Ausnahmen. »Bitch oder Bastard«, da sprühte die Diskussion plötzlich vor Leben. Da wurde es konkret, wieviel Männer, wieviel Frauen bekommen Preis? Und warum? Urteilen die Jurys (meist mit Männern besetzt) wirklich nur aufgrund der Qualität der vorgelegten Texte? Oder laufen da Netzwerke ab und wie? Die Meinungen auf dem Podium wie bei den Zuhörern waren geteilt, anders als in den anderen Veranstaltungen.

Wenn Leute sich gegenseitig bestätigen und nur noch lesen und hören, was die Meinung dieser Gruppe bestätigt, reden wir von »Filterblasen«. Und in vielen Diskussionen hatte ich das Gefühl, in einer Filterblase zu sitzen. Die des literarischen Krimis. In der es bestimmte Glaubenssätze gibt (siehe heile Welt), die nicht hinterfragt werden, weil eben alle einer Meinung sind.

Noch ein paar Beispiele gefällig?

Gute Krimis sollen widerspenstig sein, subversiv, sollen verstören. Das wurde mehrfach erwähnt, hinterfragt wurde es genausowenig. Es gehört zum Glaubensbekenntnis der Literaten unter den Krimifans.

Okay, ich spiel jetzt mal den Advocatus Diaboli. Den Ketzer. Was zum Teufel heißt das, subversiv, verstörend, widerspenstig? Ich habe viele Krimis aus der Krimibestenliste gelesen, dem Zentralorgan der Krimi-Literaten und schätze sie. Aber haben sie mich verstört? Kein Einziger hat das geschafft. Verstören würde mich ein Krimi eines AfD-Autors, in dem sämtliche Flüchtlinge in der Waschküche Bomben basteln und Allahu Akbar schreien würden, bevor sie sich auf dem Rathaus mit den städtischen Angestellten in die Luft sprengen.

Setzen wir mal wieder einen Fuß auf den Boden der Realtitäten und verlassen den siebten Himmel der Theorie.

Da gibt es zum Beispiel Max Annas‘ Roman »Illegal«, er gehört ganz zweifelsohne zum literarischen Krimi, zu denen, die sich von Fitzek und anderen Teufeln absetzen, zu denen, die kriminelle Literaten schätzen. Er ist gut geschrieben, folgt einen Afrikaner, der illegal in Berlin lebt, immer in Angst, ohne Papiere erwischt und abgeschoben zu werden. Ein eindrückliches Buch. Aber widerspenstig? Subversiv? Hat es mich verstört? Es hat mich gepackt, hat mir deutlich gemacht, wie jemand lebt, leben muss, der keine Papiere und die falsche Hautfarbe hat. Hat mich eintauchen lassen in eine Lebenswelt, die weitab von der meinigen liegt. Spannend ist das zweifelsohne, aber subversiv?

Seltsamerweise ähnelt der Schluss dieses Romans dann sehr einem drittklassigen Tatort, einem der teuflischen Mainstream-Krimis. Dort taucht der Bösewicht auf. Und während der Afrikaner ohne Papiere ein Musterbeispiel einer gekonnten Romanfigur ist, die den Leser mit in seine Welt nimmt, ist der Bösewicht blaß und das einzig bemerkenswerte an ihm, dass er viel Geld hat.

Heute wollen alle subversiv sein. Wer will schon die Verhältnisse affirmativ bestätigen? Egal ob AfD, Linke oder sonst wer: Sie alle sind gegen das Establishment, gegen die etablierte Politik und betonen, dass sie nicht im Mainstream schwimmen wollen. Der Mainstream scheint ein Fluss zu sein, dem längst alles Wasser davon geschwommen ist. Positiv will keiner davon reden.

In den Fünfzigern und Sechzigern war das anders. Da war staatstragend kein Schimpfwort, da gefährdete die APO die herrschende Ordnung und wurde dafür gehasst. Im »Stahlnetz«, dem damaligen Tatort, stammten die Täter immer aus der Unterschicht und gefährdeten die Sicherheit der braven Bürger.

Heute weiß jeder Fernsehzuschauer: Wenn jemand einen teuren Wagen fährt und in einer noblen Villa wohnt, dann ist es der Täter. Der Mainstream hat die Windrichtung geändert. Wir da unten ist schick geworden, die da oben sind die Verbrecher.

Subversiv und widerständig sind zu Klischees verkommen, sorry for that liebe Literaten.

Und wie sieht es mit den anderen Glaubenssätzen aus der literarischen Krimiblase aus? Wir wollen keine heile Welt, predigen die Kulturredakteure in der heilen Literaturwelt. Okay, Gegensätze ziehen sich an. In den Fünfzigern war die heile Welt brüchig, jeder hatte aus der Nazizeit seine Leichen im Keller und mehr Probleme erlebt, als ihm lieb sein konnte. Heile Welt wollten sie alle, weil sie genau die nicht hatten. Wie gesagt, heute ist das umgekehrt.

Keine Happy-Ends, die sind verlogen, nein, wir wollen, dass alles düster und verzweifelt ist und dass das Ende rabenschwarz sein muss.

Wieso eigentlich? Unrealistisch ist beides. Happy-End ist genauso wie Bad-End ein Schemata, dazwischen gibt es zahlreiche Zwischenstufen und welche dieser Schemata eine Geschichte verwendet, hängt von der Geschichte ab. Sollte es zumindest.

Zurück in die Niederungen der Realitäten. Agathe Christie und die Schar ihrer Unterteufel ist affirmativ, sie festigt die herrschende Ordnung, auch das eine der Sätze, der zum Glaubensbekenntnis der Krimi-Literaten in »Krimis machen« und anderswo gehört. Unpolitisches Teufelswerk, pfui!

Agathe Christies »Zeugin der Anklage« ist einer der bekanntesten Bücher Agathe Christies. Dass Engländer im allgemeinen und englische Geschworene im besonderen Ausländer nicht mögen, ist eines der wesentlichen Elemente, darauf baut die Geschichte unter anderem auf. Sie klagt nicht an, aber konstatiert. Ganz so affirmativ ist sie denn doch nicht.

Zurück zu der Tagung »Krimis machen 3«. Die spannendste Diskussion war die über die Debüts neuer Autoren. Erhalten neue Autoren in Verlagen Chancen? Wenn ja, welche? Und wie läuft das in den Verlagen ab?

Mehrere Verlagslektoren und Autoren diskutieren. Hier ging es wirklich um die Praxis, hier wurden unterschiedliche Positionen vertreten und der Zuhörer bekam einen neuen Blick auf das Verlagswesen.

Ich habe Freundinnen und Freunde in meiner FB Liste, über deren Beiträge ärgere ich mich immer wieder. Da muss ich widersprechen. Aber sie zwingen mich, meine eigenen Meinungen zu schärfen, zu überdenken, zu ergründen, warum ich das anders sehe als sie. Das sind die Leute, die mich weiterbringen. Diskussionspodien, auf denen alle die gleiche Grundhaltung haben, sind langweilig.

Mein Fazit: Glaubensbekenntnisse helfen in Diskussionen über Krimis nicht weiter und Begriffe, die längst zum Klischee geworden sind, auch nicht.

Ich hoffe sehr, dass es ein »Krimi machen 4« geben wird. Und dass dort unterschiedliche Meinungen auftreten, von Christie-Fans bis zum Fan des literarischen Krimis. Die Unterschiede, die verschiedenen Positionen auf den Tisch kommen. Wie arbeiten die unterschiedlichen Autoren? Was für Folgen hat das? Warum werden welche Krimis gelesen oder andere nicht?

Links:
Krimis machen 1
Krimis machen II
WDR Bericht Krimis machen III
Gudrun Lechbaum: So wars für mich

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