Das Buch muss das Werk des Autors und der Autorin bleiben

Cordula Natusch ist Diplom-Germanistin, gelernte Bankkauffrau und Lektorin für Finanzen und Wirtschaft. Außerdem berät sie Experten und Expertinnen, die ein Buch schreiben und den Weg zum Businessautor und –autorin erfolgreich beschreiten wollen.

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Hans Peter Roentgen: Welche Texte lektorierst du? Und was machst du in so einem Lektorat?

Cordula Natusch: Für Experten und Expertinnen, die ein Buch für ihr Business schreiben wollen, bearbeite ich Ratgeber, Sachbücher, Arbeitshefte usw. Wenn ich für Unternehmen lektoriere, landen vor allem Geschäfts- und Nachhaltigkeitsberichte, Fachzeitschriften, Fachartikel und Ähnliches auf meinem Schreibtisch.

HPR: Wie sieht der typische Ablauf eines solchen Lektorats aus? Mal angenommen, ich schicke dir einen Text, welche Schritte passieren dann, bis das Lektorat beendet ist?

CN: Ich gehe jetzt mal davon aus, dass du ein Businessautor bist und dein Expertenbuch lektorieren lassen willst. Am Anfang steht immer ein Gespräch. Darin klären wir erst einmal, ob ich überhaupt die richtige Lektorin für dich bin. Es gibt viele Themen, die ich nicht qualifiziert bearbeiten kann, etwa wenn es um Esoterik geht. Da bin ich draußen, weil mir der Zugang fehlt! So denke ich einfach nicht – und dann kann ich einen solchen Text auch nicht lektorieren.

Wenn es grundsätzlich passt, mache ich ein kostenloses Probelektorat. Dafür lasse ich mir von dir das Manuskript schicken und wähle daraus ein paar Seite aus, die ich nach deinen Vorgaben bearbeite. So kannst du als Autor erkennen, wie ich arbeite und ob meine Herangehensweise an den Text für dich passt. Außerdem verschaffe ich mir auf diesem Weg einen ersten Überblick über Aufbau, Gliederung und Überarbeitungsbedarf des Texts. Erst dann erstelle ich ein individuelles Angebot und wir besprechen einen möglichen Zeitplan.

Im Lektorat selbst arbeite ich mit zwei Durchläufen und immer im Änderungen-verfolgen-Modus, damit der Autor und die Autorin auch sehen, was ich gemacht habe. Im Erstlektorat wird es zunächst einmal grundsätzlich. Ich beschäftige mit viel mit der Struktur und der Kernaussage im Text, kontrolliere die Gliederung und kümmere mich um den roten Faden im Buch. Außerdem steige ich tief in den Text ein. Ich streiche die Textteile, die meiner Meinung nach redundant sind, spüre inhaltliche Sprünge und Widersprüche auf, stelle Teile um, suche Formulierungen, die besser zur Zielgruppe und zur angestrebten Aussage passen, arbeite am Stil etc. Das ist eine sehr intensive Überarbeitung, bei der oft kein Stein auf dem anderen bleibt. Häufig halte ich zwischendurch Rücksprache mit dem Autor oder der Autorin, wenn mir einzelne Passagen unklar sind. Diese Überarbeitung aus dem Erstlektorat schicke ich dann zurück. Mein Kunde oder meine Kundin geht dann durch alle meine Vorschläge – als Lektorin mache ich nur Vorschläge – durch, nimmt sie an oder lehnt sie ab, füllt inhaltliche Lücken und beantwortet meine Fragen.

Danach bekomme ich wieder den Text zum Zweitlektorat. Das ist dann die Feinarbeit. Ich kontrolliere, was der Autor oder die Autorin ergänzt hat, was angenommen oder abgelehnt wurde und welche Auswirkungen das jeweils auf den Gesamttext hat. Außerdem gehe ich noch einmal komplett durch das Manuskript durch und behebe alle Mängel, die nach dem Erstlektorat noch stehen geblieben sind.

Im Erstlektorat geht es viel um Struktur und um Grundsätzliches, im Zweitlektorat findet überwiegend die Feinarbeit an Stil und Sprache statt. Ich sage immer, im Erstlektorat kommt die Axt zum Einsatz, im Zweitlektorat die Feile.

HPR: Bietest du unterschiedliche Lektoratsformen an (Exposé, Klappentext, Manuskriptgutachten), oder sind es immer vollständige Texte?

CN: Ich bearbeite auch Exposés, erstelle Manuskriptgutachten etc. Wobei die Übergänge zur Beratung fließend sind. Ein Exposé sollte immer auf den jeweiligen Verlag zugeschnitten sein, daher geht es oft auch um Fragen der Verlagssuche. Oder ich stelle fest, dass das ganze Buch, die ganze Idee noch nicht rund sind – dann ist Konzeptarbeit angesagt. Ähnlich ist es beim Manuskriptgutachten. Das mündet oft in ein Autorencoaching auf Basis des Gutachtens. Denn Letzteres zeigt erst einmal nur, *was* der Autor oder die Autorin tun sollte, um den Text besser zu machen. Das *Wie* ist damit aber noch nicht beantwortet und bereitet oft die größeren Probleme.

HPR: Was ist deiner Meinung nach die wichtigste Aufgabe einer Lektorin, eines Lektors?

CN: Zu erkennen, was der Autor oder die Autorin mit den Büchern erreichen will, und ihn oder sie dabei zu unterstützen, dieses Ziel zu erreichen. Außerdem ist es wichtig zu verstehen, dass es nicht um mich geht. Als Lektorin muss ich in der Lage sein, mich selbst zurückzunehmen. Den Text effektiv zu verbessern, ohne die Stimme des Autors oder der Autorin zu verfälschen – das ist die Herausforderung bei unserer Arbeit.

HPR: Gibt es typische Probleme in den Texten, die du erhältst, die immer wieder auftreten? Kannst du uns drei typische Beispiele nennen, die du immer wieder überarbeiten musst?

CN: Häufig hapert es an der Struktur. Fast immer komme ich in einem Manuskript an einen Punkt, an dem ich nicht mehr verstehe, worum es eigentlich geht. An dem logische Sprünge vorkommen und der Inhalt lückenhaft ist. Hier muss dann der Autor oder die Autorin noch einmal ran und die Übergänge glätten, Stoff nachliefern, Erklärungen einfügen usw. Auch das Gegenteil begegnet mir immer wieder: inhaltliche Wiederholungen. Dann steht in manchen Textteilen mehr oder weniger dasselbe drin wie im Abschnitt davor, nur mit anderen Worten. Da streiche ich dann beherzt.

Oft verlieren die Autorinnen und Autoren beim Schreiben ihre Zielgruppe aus den Augen. Sie setzen zu viel Wissen voraus oder langweilen ihre Leser und Leserinnen, indem sie Bekanntes langatmig erklären. Ich muss mich also immer in den Leser und die Leserin hineinversetzen, um hier eingreifen zu können.

Und schließlich habe ich es viel mit den typischen stilistischen Mängeln in Sachtexten zu tun: Substantivierungen, Passiv- und Man-Konstruktionen, Bandwurmsätze, Bürokratendeutsch 

HPR: Auf deiner Homepage bietest du auch Konzept und Beratung an. Wie habe ich mir das vorzustellen? Was machst du da?

CN: Bei Coachs, Trainerinnen, Speakern und Beraterinnen geht es oft darum, mithilfe von Büchern Sichtbarkeit zu schaffen und sich einen Expertenstatus aufzubauen. Meine Aufgabe ist es, sie darin zu unterstützen und mit ihnen die Bücher zu konzipieren, zu schreiben, zu veröffentlichen und zu vermarkten, die zu ihren Zielen und zu den Rahmenbedingungen passen. Der Buchmarkt verändert sich rasant und für Laien sind die verschiedenen Möglichkeiten zu publizieren kaum mehr zu durchschauen. In meinen Vorträgen, Webinaren, Kursen etc., aber auch in der persönlichen Einzelberatung vermittle ich Wissen: Wie arbeiten Verlage? Wie geht Selfpublishing? Welcher Weg bietet welche Vorteile und Nachteile? Wo lauern Fallen? Und wie schreibe und veröffentlichen ich mein Buch und bringe ich es dann den Mann und die Frau? Auf einem amerikanischen Blog habe ich mal den Begriff „authorempowering“ gelesen – das trifft das, was ich erreichen möchte, sehr gut.

HPR: Bietest du auch Coaching an?

CN: Ja.

HPR: Übernehmen deine Kunden alle deine Änderungen? Erwartest du, dass alles übernommen wird?

CN: Nein, natürlich nicht. Wie schon gesagt, als Lektorin mache ich nur Vorschläge. Ich halte es auch für wichtig, mir meiner Rolle bewusst zu sein: Ich bin Dienstleisterin! Das Buch muss das Werk des Autors und der Autorin bleiben. Schließlich ist es ihr Name, der künftig damit verbunden ist.

HPR: Kannst du einen Durchschnittswert sagen, wie viel Prozent deiner Änderungen übernommen werden?

CN: Weit über 90 Prozent. Ich habe auch Kunden und Kundinnen, die in Word auf „Alle Änderungen annehmen“ klicken, weil sie mir vertrauen. Aber wie gesagt, das erwarte ich nicht und mir ist es auch lieber, wenn sich die Autoren und Autorinnen mit dem beschäftigen, was ich gemacht habe. Ich bin ja nicht unfehlbar.

HPR: Was geschieht, wenn der Kunde sagt: Nein, so wie du das geändert hast, will ich das nicht haben?

CN: In der Regel gar nichts. Vielleicht diskutieren wir noch ein bisschen: Ich erkläre, warum ich die Änderung für wichtig halte, der Kunde und die Kundin sagen, warum sie sie nicht annehmen wollen. Dann versuchen wir eventuell, einen Kompromiss zu finden.

HPR: Gab es auch schon mal Fälle, in denen du und der Kunde euch nicht einigen konnten? Was passiert dann?

CN: Es ist und bleibt der Text des Kunden und der Kundin, das kann ich akzeptieren! Schlimmstenfalls bestehe ich darauf, aus dem Impressum gestrichen zu werden, wenn bestimmte Änderungen nicht übernommen werden. Das hatte ich allerdings erst einmal: Der Autor wollte einen Abschnitt, den ich inhaltlich für komplett falsch und schädlich für das Buch hielt, nicht ändern. Wenn so etwas stehen bleibt, fällt das auch schnell auf mich als Lektorin zurück. Da muss ich dann meine eigene Reputation schützen.

Dass ich mit meinem Lektorat komplett daneben lag und es aus Kundensicht nicht zu gebrauchen war, hatte ich zum Glück noch nie.

HPR: Müssen die Texte ein bestimmtes Niveau haben, damit du sie lektorierst? Oder lektorierst du alles?

CN: Ja, ein Text muss schon lektoratsreif sein, damit ich ihn annehme. Das ist aber eher eine inhaltliche als eine sprachliche Hürde. Einen Blubbertext ohne Inhalt (und davon gibt es gerade im Ratgeberbereich leider viel zu viele) mag ich nicht lesen und auch nicht bearbeiten. Aber wenn der Autor, die Autorin wirklich etwas zu sagen hat und es nur an der sprachlichen Ausarbeitung fehlt, findet sich irgendwie ein Weg. Ich habe auch schon mal über 100 Seiten ohne Fließtext, sondern nur mit Auflistungen und Spiegelstrichen bekommen und daraus ist ein schönes Buch geworden. Das ist dann eher ein Ghostwriting und entsprechend aufwendig, zeitintensiv und auch kostspielig, aber möglich ist so etwas auf alle Fälle.

HPR: Was gehört zu deinem Lektorat? Grammatik, Rechtschreibung? Stil? Was noch?

CN: Ein Lektorat ist kein Korrektorat. Das kann man nicht oft genug betonen. Natürlich bessere ich Rechtschreib-, Zeichensetzungs- und Grammatikfehler aus, wenn sie mir im Text auffallen. Aber mein Fokus ist während des Lektorats ein komplett anderer: Dann stehen Struktur, Leserführung, Logik, Sprache, Stil etc. im Vordergrund. Und oft ist die Arbeit auf diesen Ebenen so intensiv, dass ich ebenso fehlerblind werde wie der Autor und die Autorin selbst. Ich empfehle daher immer ein abschließendes Korrektorat durch einen Profi, der den Text noch nicht kennt.

HPR: Kannst du das an einem Beispiel ausführen?

CN: Gern. Angenommen, ich strukturiere einen Absatz neu: Ich verschiebe Textteile, schreibe neue Übergänge, füge Abschnitte ein, die mir nachgeliefert wurden, lösche redundante Teile usw. Und dann lese ich mir den jetzt neuen Text im Ganzen durch, stelle fest, dass er sprachlich und stilistisch noch nicht rund ist und dass sich aus den Nachlieferungen neue Fragen ergeben. Also überarbeite ihn erneut. Ich löse hier ein Passiv auf und dort eine Substantivierung. Aus einem Bandwurmsatz mache ich zwei oder drei einzelne Sätze. Und ändere ihre Reihenfolge … Dann brauche ich möglicherweise wieder neue Übergänge. Und so weiter und so fort. Bis ein Absatz fertig ist, überarbeite ich ihn teilweise fünf Mal und mehr. Und das im gesamten Manuskript.

Während und nach einer solch intensiven Überarbeitung sehe ich einfach keine Fehler mehr. Das ist aber völlig normal, das wird jeder bestätigen können, der einmal so tief in Texte eingestiegen ist.

HPR: Kommen wir zum heikelsten Thema, den Preisen. Hast du feste Preise für bestimmte Leistungen, zum Beispiel pro Normseite? Oder wonach berechnest du den Preis deiner Leistungen?

CN: Ich kalkuliere jeden Auftrag individuell, denn das Ausgangsniveau, die Anforderungen und damit der Aufwand sind sehr unterschiedlich.

HPR: In welchem Bereich bewegt sich der durchschnittliche Aufwand für ein Manuskript eines Sachbuchs 300 Seiten? Gibt es da Grenzen, maximal, minimal?

CN: Wie erwähnt, das lässt sich nicht sagen. Handelt es sich um ein Sachbuch über Kryptowährungen und ihren Einfluss auf die Weltwirtschaft, das noch aussieht wie Kraut und Rüben? Oder um einen Ratgeber, wie Morgenrituale zu etablieren sein, der schon recht sauber daherkommt? Je mehr Fachwissen, Zeit und Mühe notwendig sind, um das Buch richtig gut zu machen, desto teurer und langwieriger wird es natürlich auch. Bei 300 Seiten (Normseiten, also 1500 Zeichen inkl. Leerzeichen) würde ich als Autor oder Autorin aber mindestens mit 2500 bis 3000 Euro rechnen, wenn ich ein wirklich gutes Lektorat von einem fachlich versierten Profi haben will. Immerhin sitzen wir mehrere Wochen oder gar Monate an einem Text, bevor er veröffentlichungsreif ist.

HPR: Wie bist du eigentlich Lektorin geworden? Wie sah dein Berufsweg aus?

CN: Ich bin gelernte Bankkauffrau und habe in dem Beruf auch gearbeitet, bevor ich anfing, Literaturwissenschaft, Literaturvermittlung und Philosophie in Bamberg zu studieren. Nach meinem Examen (ich habe einen der seltenen Diplom-Abschlüsse in der Germanistik) landete ich bei verschiedenen Verlagen, etwa dem Carl Hanser Verlag, bei Focus Online und der Gesellschaft für Wirtschaftsinformation. Aber irgendwann war klar, dass ich lieber freiberuflich als festangestellt arbeiten wollte. Und dann ging eigentlich alles ganz schnell.

HPR: Gibt es einen mittlerweile veröffentlichten Text aus deinen Lektoraten, den du uns besonders empfehlen würdest?

CN: Im letzten Jahr habe ich mit Frau Professor Jacqueline Otten von der HAW Hamburg ein Workbook zu „Resign Thinking“, einer Weiterentwicklung des Design-Thinking-Konzepts, gemacht. Das Buch ist bei Tredition erschienen und zeigt wirklich beispielhaft, dass Bücher aus dem Selfpublishing Verlagsbüchern in nichts nachstehen, wenn mit der entsprechenden Sorgfalt und Professionalität gearbeitet wird.

HPR: Herzlichen Dank für das Interview.

Ich habe nichts dagegen, wenn Sie diesen Blog teilen, verlinken, weiter empfehlen. Wenn Sie anderer Meinung sind oder etwas zu diesem Beispiellektorat beitragen wollen, scheuen Sie sich nicht, es mir zu mailen oder in FB zu kommentieren! Sie können auch Ihre Texte für ein Beispiellektorat vorschlagen.

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Das Buch muss das Werk des Autors und der Autorin bleiben

Ein Interesse an Texten von anderen, den Autor mit seinen Sorgen verstehen

Isabell Schmitt-Egner hat für den Carlsen Verlag, für Piper und andere Verlage lektoriert und die Bücher zahlreicher Selfpublisherinnen und Selfpublisher bearbeitet. Sie hat außerdem eigene Romane verfasst, der letzte war »Waldprinz«.

Hans Peter Roentgen: Welche Texte lektorierst du? Und was machst du in so einem Lektorat?

Isabell Schmitt-Egner:
Hinweis zu Anfang: Im Folgenden bezeichne ich aus Gründen der Vereinfachung und Lesbarkeit Autorinnen und Autoren beispielhaft als „der Autor“ in der männlichen Form.

Meistens sind es inzwischen Fantasybücher von Verlagsautoren. Im Lektorat verschaffe ich mir zunächst einen Überblick über die Welt, die Charaktere und die Story. Ich lote die Schwächen des Autors aus, die sich in der Regel schon auf den ersten Seiten zeigen. Dann gibt es eine erste Besprechung, immer am Telefon. Wir sprechen dann meine Anmerkungen durch, ich erkläre, was ich meine, was mir aufgefallen ist, und lasse den Autor sagen, ob das Absicht war, ein Denkfehler, ein Versehen usw. Dann mache ich Lösungsvorschläge, bis wir etwas finden, was dem Autor gefällt. Ich weise ihn auf seine Schwächen hin und frage ihn, ob er es selbst beheben will oder wo ich helfen soll. Das bedeutet auch mal, dass ich einige Seiten komplett neu oder umschreibe, falls der Autor sich an dieser Stelle überfordert sieht.

Im zweiten Durchgang ist das Feld bereits etwas bereinigt und übersichtlicher. Nun gehe ich in die Feinheiten, schleife an Formulierungen, mache Vorschläge für bessere Dialoge und bessere Witze etc. Ich suche nach weiteren Logikfehlern, die sich auch durch das Bearbeiten einschleichen können. Es folgt wieder eine Besprechung am Telefon.

Im dritten Durchgang ist das meiste dann erledigt, allerdings kommt es nicht selten vor, dass dann erst, da alles aufgeräumt ist, noch ein großer Logikfehler zutage tritt. Diesen hat vorher niemand bemerkt, weder Autor noch Testleser. Das passiert gar nicht so selten. Um diese Fehler zu finden, lese ich das Buch kapitelweise rückwärts. Man glaubt gar nicht, was sich noch auftun kann …

Reicht die Zeit, machen wir einen vierten Durchgang, feilen an Kleinigkeiten und suchen alle restlichen Schreibfehler, die wir finden können. Für den Verlag formatiere ich dann das Manuskript mit der verlagsinternen Formatvorlage. Danach geben wir ab und hoffen das Beste!

HPR: Welche Eigenschaften sind deiner Meinung besonders wichtig, um Texte zu lektorieren?

ISE: Ein Interesse an Texten von anderen, den Autor mit seinen Sorgen verstehen, das sind zwei sehr wichtige Punkte. Ich höre sehr viele Horrorgeschichten, was im Lektorat alles schiefgeht. Also nicht im Sinne von, man übersieht Fehler, sondern dass der Lektor dem Autor einen schlechten Stil einredet, also den Stil des Autors verschlimmbessert, indem er völlig falsche Hinweise gibt. Lektoren sollten sich fortbilden und sich intensiv mit Schreibtechniken beschäftigt haben. Ich höre immer wieder, dass sich einer ein Autorenprogramm kauft und dann Lektorat anbietet. Unbedarfte Autoren geben ihr Geld aus für jemanden, der ab und zu „show don’t tell“ an den Rand schreibt und den Rest automatisiert unterkringeln lässt und das wars.

Man sollte in der Lage sein, eine Geschichtenatmosphäre zu erfassen und zu spüren, ob sie stimmt. Man muss Geschichten verstehen, man muss Menschen verstehen. Man sollte Ideen haben, wie man eine vollkommen verkorkste Geschichte retten kann. Oder wie man eine Szene, die die Geschichte eigentlich kaputtmacht, später so relativieren kann, dass es eben doch funktioniert. Und vieles, vieles mehr. Über das Thema könnte ich stundenlang reden. Man braucht einfach Erfahrung. Inzwischen braucht mir jemand nur ein bisschen was von seiner Geschichte zu erzählen und ich ahne sofort, wo der Haken ist. Damit liege ich meistens richtig. Das war früher nicht so, das kommt mit der Zeit.

HPR: Wie sieht der typische Ablauf deines Lektorats aus? Mal angenommen, ich schicke dir einen Text, welche Schritte passieren dann, bis das Lektorat beendet ist?

ISE: Das hatte ich oben schon angedeutet. Ich verschaffe mir einen Überblick, stelle die Baustellen fest, es wird besprochen, wie wir das beheben und wer von uns was davon macht. In bis zu vier Durchgängen wird der Roman auf allen Ebenen optimiert, also inhaltlich, stilistisch, Charaktere, Spannungsbögen, Weltenbau, alles. Meistens teilen wir das Manuskript in mehrere Dateien auf, um parallel arbeiten zu können.

Während der Arbeit gebe ich dem Autor Tipps für seine persönlichen Probleme beim Schreiben und ich verrate ihm Tricks und Kniffe für seinen Text.

HPR: Bietest du unterschiedliche Lektoratsformen an (Exposé, Klappentext, Manuskriptgutachten), oder sind es immer vollständige Texte?

ISE: Ich biete nichts mehr aktiv an, muss ich sagen, denn seit ein paar Jahren bin ich immer im Vorfeld ausgebucht für das kommende Jahr. Immer mit ganzen Manuskripten. Deshalb verzichte ich auf eine Homepage, ich müsste sowieso alles absagen, was reinkommt. Trotzdem helfe ich Autoren nebenbei in Einzelfällen mit Klappentexten, Exposés, oder ich mache ihnen ein Schnellgutachten für wenige Manuskriptseiten, welches dann am Telefon besprochen wird. Das hilft Autoren weiter bei Schreibblockaden oder grundsätzlichen Denkfehlern, die man auf den ersten Blick nicht sieht.

HPR: Was ist deiner Meinung nach die wichtigste Aufgabe eines Lektorats?

ISE: Aus dem Manuskript eine Endversion zu machen, zu dem Autor und Lektor vollumfänglich stehen können.

HPR: Gibt es typische Probleme in den Texten, die du erhältst, die immer wieder auftreten? Kannst du uns drei typische Beispiele nennen, die du immer wieder überarbeiten musst?

ISE: Zum einen hätten wir da die „erklärende“ wörtliche Rede. Der Autor versucht verzweifelt, das Wort „sagte“ zu vermeiden und ersetzt es durch abenteuerliche Konstrukte, an denen erklärende Adjektive und Adverbien hängen wie geschmacklose Christbaumkugeln. Das kommt daher, dass der Autor erstens denkt, „sagte“ ist unkreativ und zweitens befürchtet er, nicht verstanden zu werden, also hängt er erklärende Zusätze dran.

Damit kommen wir zum nächsten Problem: Fehlender Subtext. Der Autor hat sich in Erklärungen verloren und man sucht vergeblich nach Subtext und damit nach Sog, Spannung und Unterhaltung.

Dann würde ich noch Charakterbrüche nennen. Die kommen häufig vor. Der Autor hat seinen Charakter nicht vor Augen und lässt ihn Dinge tun, die ihn zerstören, die ihn in den Augen des Lesers unglaubwürdig, unsexy oder planlos erscheinen lassen.

HPR: Bietest du auch Coaching an?

ISE: Ich coache, wie oben erwähnt, in kleinen Einheiten und in Einzelfällen. Für mehr ist keine Zeit aktuell. Abgesehen von Autoren, die ich im Lektorat habe, die erhalten natürlich jederzeit umfangreiche Coachings. Wir telefonieren dazu und auch Hausbesuche waren schon drin.

HPR: Übernehmen deine Kunden alle deine Änderungen? Erwartest du, dass alles übernommen wird?

ISE: Normalweise übernehmen sie fast alles. Man kann nie erwarten, dass jemand ALLES übernimmt, das wäre Unsinn. Aber ich hatte es erst einmal, dass die Autorin vieles nicht übernehmen wollte. Bei allen anderen hat es geklappt.

HPR: Kannst du einen Durchschnittswert sagen, wie viel Prozent deiner Änderungen übernommen werden?

ISE: Geschätzt würde ich sagen 95%.

HPR: Was geschieht, wenn der Kunde sagt: Nein, so wie du das geändert hast, will ich das nicht haben?

ISE: Das kommt darauf an. Wenn es eine Formulierung ist, die Geschmackssache ist, dann lasse ich ihn einfach und sage nichts. Ist es in meinen Augen ein Schnitzer, dann erkläre ich es noch mal. Ist es wirklich falsch, dann kämpfe ich. Und meistens gewinne ich.

HPR: Gab es auch schon mal Fälle, in denen du und der Kunde euch nicht einigen konntet? Was passiert dann?

ISE: Einmal, wie gesagt. Wir konnten uns nicht grundsätzlich einigen, obwohl wir uns persönlich sehr mochten und auch heute noch mögen. Ich habe mich am Ende an den Verlag gewandt, weil die Diskussion sich über ein Jahr hinzog. Der Verlag hat es sich angesehen und mir recht gegeben. Am Ende habe ich das Lektorat niedergelegt und das Projekt wurde insgesamt auf Eis gelegt bis auf Weiteres.

HPR: Müssen die Texte ein bestimmtes Niveau haben, damit du sie lektorierst? Oder lektorierst du alles?

ISE: Ich lektoriere aktuell nur für Verlage, da nehme ich, was sie mir geben. Das ist ja in der Regel vorher ausgesucht worden vom Verlag, also ist das Niveau schon gegeben. Ich habe schon Texte abgelehnt von Selfpublishern, darunter waren schlecht geschriebene Erotikromane und auch Manuskripte, bei denen man sah, dass die Baustelle zu groß war, dass es wirklich an allem fehlte. Das sagte ich dem Autor/der Autorin dann auch und riet vom Veröffentlichen zu diesem Zeitpunkt ab.

HPR: Was gehört zu deinem Lektorat? Grammatik, Rechtschreibung? Stil? Was noch?

ISE: Das alles, dazu Weltenbau, kreative Ideen für mehr Witz und Schwung. Dazu bilde ich mich weiter im naturwissenschaftlichen Bereich, das hat uns schon oft geholfen.

Charaktere ausbauen, Erzählerstimme finden, Prämisse finden und festlegen, Leitmotive, Perspektiven.

HPR: Kannst du das an einem Beispiel ausführen?

ISE: In einem Roman ging es um Feen. Diese taten aber nichts Besonderes, außer schön aussehen und Party machen. Das besprach ich mit der Autorin und sie wollte das ändern. Wir überlegten uns, welche Rolle die Feen in der Welt spielen könnten, welche Magie sie haben. Vorher schrieben sie auf Laptops und hatten Türschlüssel zu ihren Zimmern. Danach hatten sie Speicherkristalle und die Türen wurden von sprechenden Augen bewacht, die Namen und Charakter hatten. Wir liefen zur Höchstform auf und überboten uns gegenseitig mit Ideen. Das Manuskript bekam einen ganz anderen Charakter. Der Verlag war begeistert, sie erkannten das Manuskript kaum wieder. Weitere Bände entstanden, die Autorin war ganz in diese Welt eingetaucht und hat ein episches Werk entworfen. Die Bücher haben sich sehr gut verkauft.

HPR: Kommen wir zum heikelsten Thema, den Preisen. Hast du feste Preise für bestimmte Leistungen, zum Beispiel pro Normseite? Oder wonach berechnest du den Preis deiner Leistungen?

ISE: Der Verlag macht mir ein Angebot, das ich dann so übernehme. Bei Autoren habe ich immer Pauschalpreise gemacht in derselben Höhe wie beim Verlag. Gelegentlich habe ich einen Freundschaftspreis gemacht.

HPR: In welchem Bereich bewegt sich der durchschnittliche Aufwand für ein Manuskript eines Taschenbuchs mit 300 Seiten? Gibt es da Grenzen, maximal, minimal?

ISE: Minimal würde ich sagen, sechs Wochen Zeit. Länger als drei Monate braucht man in der Regel nicht, es sei denn, der Autor wird krank.

HPR: Muss deiner Meinung nach ein Lektor selbst erfolgreich Bücher veröffentlicht haben?

ISE: Nein, das muss er nicht. Ein Trainer für Olympia muss ja auch nicht selbst turnen können oder genauso schnell schwimmen können. Aber es hilft natürlich, weil man als Autor weiß, wie sich ein anderer Autor fühlt.

HPR: Wie bist du eigentlich Lektor geworden? Wie sah dein Berufsweg aus?

ISE: Ich war Maskenbildnerin beim Film und hatte noch nie was geschrieben, aber ich merkte bei den Dreharbeiten oft, wenn etwas im Text nicht stimmte. Eines Tages schrieb ich einige Zeilen im Drehbuch um, obwohl das streng verboten war. Am nächsten Tag kam die Schauspielerin und sagte: „Wer hat das Drehbuch umgeschrieben?“ Ich meldete mich. Sie so: „DANKE!“

Da merkte ich, dass ich wohl richtiggelegen hatte mit meinem Textgefühl.

Irgendwann habe ich eine Kurzgeschichte verfasst und im Netz hochgeladen. Nach nur einer Stunde hatte ich das erste Manuskript im Briefkasten mit der Bitte um Kritik. Das überraschte mich. Ich kritisierte den Text, aber der Autor wollte das nicht hören. Egal.

Ich machte weiter mit eigenen Geschichten und kaufte mir als Erstes „Vier Seiten für ein Halleluja“ und „Wie man einen verdammt guten Roman schreibt“. Das erste Buch brachte mir etwas, das zweite nicht. Also kaufte ich weitere Ratgeber und schrieb weiter. Nebenbei fing ich an, Fehler in Büchern aufzulisten und an die Verlage zu schicken. Es kam nie eine Antwort.

Ich hatte mich in Foren angemeldet und versuchte mich weiterzubilden. Ich glaubte auch viel von dem Unsinn, der dort verzapft wurde. Im Nachhinein war das alles sehr lustig. Eines Tages bat mich eine Autorin um Hilfe. Ich ging ihr Buch durch und diese Anmerkungen bekam der Carlsenverlag in die Hände. Es folgte ein erstes Jobangebot als Korrekturleser, danach wurde ich schnell zum Lektor „befördert“. Alle anderen Jobangebote kamen dann durch Mundpropaganda auf mich zu. Beworben habe ich mich nicht, das ging wie von selbst.

HPR: Gibt es einen mittlerweile veröffentlichten Text aus deinen Lektoraten, den du uns besonders empfehlen würdest?

ISE: Ich strenge mich immer an, von daher habe ich da wenig Präferenzen. Ich empfehle mal aus der Fantasyecke die Fairy-Reihe von Stefanie Diem. Wer lachen will im Fantasybereich, dem empfehle ich die Reihe „Rotkäppchen und der Hipster-Wolf“ von Nina MacKay. Ganz ohne Fantasy, dafür mit maximalem Gefühl: „Best Friend Zone“ von Jennifer Wolf.

HPR: Herzlichen Dank für das Interview.

Ich habe nichts dagegen, wenn Sie diesen Blog teilen, verlinken, weiter empfehlen. Wenn Sie anderer Meinung sind oder etwas zu diesem Beispiellektorat beitragen wollen, scheuen Sie sich nicht, es mir zu mailen oder in FB zu kommentieren! Sie können auch Ihre Texte für ein Beispiellektorat vorschlagen.

Was dem Lektorat auffällt
was Sie immer schon mal über Lektorate wissen wollten, das Buch

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Ein Interesse an Texten von anderen, den Autor mit seinen Sorgen verstehen