Üerarbeitung und Lektorat: Der Giersch

Gärtner hassen Giersch. Der überwuchert alles. Und schön sieht er auch nicht aus. Den Giersch wird man im Garten kaum wieder los. Ihn auszureißen ist so wirkungsvoll, wie ihn zum Tee einzuladen. Er kümmert sich nicht darum. All die Pflanzen, die er brutal überwuchert, würden Auge und Seele vielmehr erfreuen.

Nicht anders ist es bei manchen beliebten Nebensatz-Konstruktionen. Sie vermehren sich, ohne dass es Autoren bewusst wird. Wenn ich die erste Als-Konstruktion in einem Text auf Seite eins lese, weiß ich, dass sie unterirdisch weiter wuchert und sehr bald neue Triebe austreiben wird.

Als der Wecker klingelte, wachte ich auf. Während ich aufstand, schlug ich die Decke zurück, da sie mich störte.

Da gibt es gleich drei literarische Gierschkonstruktionen. Einmal eingeführt, blühen sie überall auf. Und das ist das tödliche Gift: Eine Als-Konstruktion auf fünf Seiten würde niemandem auffallen. Aber fünf davon hintereinander, die einen Abschnitt einleiten, nerven auch die sanftmütigste Leserin. Wer will denn auch jede Menge Giersch im Garten haben? Oder ein Buch lesen, in dem jeder Abschnitt so beginnt: „Als ich dies tat, passierte jenes.“?

Als ich in die Dusche stieg, schaltete ich das Warmwasser ein.

Damit soll eine zeitliche Folge betont werden. Die Frage ist: Ist das nötig? In den allermeisten Fällen nicht.

Ich stieg in die Dusche und schaltete das Wasser ein.

Das ist einfacher und obendrein verständlicher. Dass beides zeitlich hintereinander folgt, kann sich der Leser denken. Und ich wette mit Ihnen, dass Sie bald danach wieder eine Konstruktion mit „als“ oder „während“ oder „da“ verwenden. Wer sich einmal angewöhnt hat, immer die zeitliche Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit zu betonen, wiederholt das schnell wieder. Die Texte wimmeln dann von literarischem Giersch und überwuchern Ihre Texte, die dadurch bald gleichförmig wirken.

Während ich dies schreibe, denke ich daran, wie unschön es ist, immer ‚während‘ zu verwenden.

Einfacher: „Immer während zu verwenden, ist ziemlich unschön.“ Und macht eine Menge Arbeit, weil man alle diese literarischen Unkräuter bei der Überarbeitung mühsam ausrupfen muss.

Unkraut wächst vor allem auf überdüngtem Boden. Die Düngung erfolgt durch den Glauben der Autoren, dass sie alles erzählen müssten, und zwar in genauer zeitlicher Reihenfolge. Auch fortlaufende logische Begründungen mit „da“ wirken ähnlich.

Da der Wecker klingelt, wache ich auf. Während ich zur Dusche gehe, gähne ich. Als ich die Dusche betrete, drehe ich den Hahn auf. Während das Wasser aus der Dusche läuft, seife ich mir die Haare ein. Als ich die Haare eingeseift habe, spüle ich sie aus. Während ich mir die Haare trockne, plane ich meinen Tag. Als ich aus der Dusche trete, ist auch der gutwilligste Leser endgültig entschlafen. Während ich glaubte, ein Meisterwerk zu schreiben, habe ich meine Leserinnen verloren, da ich sie eingeschläfert habe.

Giersch ist allerorten – und furchtbar langweilig.

Schreiben Sie einfach, das ist eine der wichtigsten Regeln des Schreibens. Lassen Sie den Wecker klingeln, und wachen Sie auf. Damit der literarische Giersch gar nicht erst Wurzeln schlagen kann.

Üerarbeitung und Lektorat: Der Giersch

Lektorat und Überarbeitung: Die Erzählstimme

Was mir schnell auffällt, wenn ich einen Text erhalte: die Erzählstimme. Wird die Geschichte so erzählt, dass sie mich in den Text zieht? Oder habe ich das Gefühl, da fehlt etwas, ist etwas nicht gelungen? Oft ist es dann die Erzählstimme, die nicht passt.

Erzählstimme

Aber was ist eigentlich diese Erzählstimme?

Ich fahre mit meinem zehnjährigen Neffen und dessen Freund nach München ins Deutsche Museum. Ab und zu erzähle ich gerne Unsinnsgeschichten, jetzt auch. Und mein Neffe wendet sich an seinen Freund und erklärt stolz: „Jetzt hat Hans Peter seine Erzählstimme. Dann darfst du ihm nichts glauben.“

Ich bin nicht der Einzige, der für seine Geschichten eine eigene Stimme benutzt. Dennoch ist die Erzählstimme das Stiefkind des Handwerks. Im Internet findet sich wenig darüber.

Das lyrische Ich

Bekannt ist die Erzählstimme in der Lyrik, das „lyrische Ich“. Ein Gedicht wird nicht von dem Verfasser direkt gesprochen, sondern er benutzt eine eigene Stimme, eben das lyrische Ich. Ein Beispiel:

„Schäfers Klagelied“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Da droben auf jenem Berge,
Da steh ich tausendmal,
An meinem Stabe gebogen,
Und schaue hinab in das Tal.
Dann folg ich der weidenden Herde,
mein Hündchen bewahret mir sie.
Ich bin heruntergekommen
Und weiß doch selber nicht, wie. […]

Ganz offensichtlich ist das hier nicht die Stimme von Goethe, der ins Tal schaut. Ob der Text im Kopf der Leserinnen einen Schäfer als Erzähler wecken kann, sei mal dahingestellt.

Die Erzählstimme im Roman

Während viel über das lyrische Ich geschrieben wurde, findet man über die Erzählstimme fast gar nichts, außer einige literaturwissenschaftlichen Artikeln, die für Autorinnen und Autoren nicht sehr hilfreich sind. Und Beiträgen im Internet, in denen die Erzählstimme mit der Erzählperspektive in einen Topf geworfen wird, in der Hoffnung, dass gutes Umrühren verbirgt, dass man Unvereinbares miteinander vermischen will.

Aber jeder spürt die Erzählstimme im Buch (außer das Buch lässt einen kalt). Es gibt etwas, das uns die Geschichte erzählt: einen Erzähler. Der kann ausführlich sein, knapp, distanziert oder nah an den Figuren, er nutzt eine Erzählperspektive und einen bestimmten Stil, hat eine Wortwahl, gehobene oder Umgangssprache.

Die Erzählstimme nutzt Handwerk

Das bedeutet: Die Erzählstimme ist kein Handwerkszeug, sondern sie nutzt bestimmte Handwerksmittel. Sie wählt eine Perspektive und behält sie in der Regel bei, fokussiert eine Distanz, die wechseln kann, nutzt Stilmittel und Wortwahl, und all das dient dazu, im Kopf des Lesers die Geschichte entstehen zu lassen – und eben die Figur der Erzählstimme. Ob es eine geruhsame Stimme ist, von jemandem, der am Ofen sitzt und erzählt, oder die sehr viel emotionalere einer Teenagerin, die uns hektisch in eine Verfolgungsjagd hineinzieht: Sie bestimmt, wie die Geschichte auf uns wirkt. Und sie weckt im Leser den Film, der in seinem Kopf abläuft.

Musik

In der Musik ist es seit langem bekannt: Es kommt nicht nur auf das Stück an, sondern auch auf die Interpretation. Janis Joplin singt „Bobby McGhee“ anders als Pink oder Sheryl Crow. Warum es aber für immer mit Janis Joplin verbunden ist, diese Wirkung lässt sich nicht einfach erklären, die meisten Zuhörer können es nicht rational begründen. Da spielt viel unbewusste Assoziation mit hinein, warum die eine Fassung eine stärkere Wirkung hat als eine andere.

Auch bei den Erzählstimmen gibt es unterschiedliche Varianten. Romeo und Julia wurde mittlerweile von den verschiedensten Erzählstimmen in unterschiedlichsten Umgebungen erzählt. Von Shakespeare über Gottfried Keller bis zur Westsidestory..

Erzählstimme und Autorenstimme

Die Erzählstimme ist nicht die Autorenstimme, sondern der Autor wählt eine Erzählstimme. Tut er das nicht, merken die Leserinnen das sofort. Etwa, wenn die Geschichte einer Fünfzehnjährigen erzählt wird, der Autor aber deutlich erkennbar mit seiner fünfzigjährigen Autorenstimme erzählt.
Und damit sind wir beim Thema, warum die Erzählstimme so entscheidend ist.

Die Erzählstimme zieht den Leser in die Geschichte

Die Erzählstimme legt fest, ob ein Buch Bestand hat oder schnell vergessen wird.

Wenn du zum Beispiel die Liftsteher anschaust. Die müssen den ganzen Tag nur aufpassen, dass ihnen keiner aus dem Lift herausfällt. Tagtäglich rutschen an ihnen Tausende Schifahrer vorbei. Normalerweise fällt von denen natürlich nie einer aus dem Lift, aber wenn es einmal vorkommt, auch kein Malheur. Muss der Liftsteher zum Not-off-Schalter gehen und den Lift abstellen. Und doch keine leichte Arbeit. („Auferstehung der Toten“, Wolf Haas)

Wolf Haas hat in den Brenner-Romanen eine ganz eigene Erzählstimme geschaffen, dafür die ungewöhnliche Du-Perspektive gewählt und sogar einen eigenen Stil und Dialekt erfunden. Eine Erzählstimme muss passen: in Stil, Wortwahl, Perspektive und allem anderen.

Nehmen Sie das genau passende Wort, nicht seinen Cousin, das wusste schon Mark Twain.

Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en français d’après l’édition de Dom J. Mabillon (Aux Presses de l’Abbaye de la Source, Paris 1842). Das Buch, versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit recht dürftig waren, präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der große Gelehrte des 17. Jahrhunderts, dem wir so vieles für die Geschichte des Benediktinerordens verdanken, angeblich seinerseits im Kloster Melk gefunden hatte. („Der Name der Rose“, Umberto Ecco)

Da spricht ein Wissenschaftler zu uns, der einen aufregenden Fund gemacht hat.

Als wir den steilen Pfad erklommen, der sich die Hänge hinaufwand, sah ich zum ersten Mal die Abtei. Nicht ihre Mauern überraschten mich, sie glichen den anderen, die ich allerorten in der christlichen Welt gesehen, sondern die Massigkeit dessen, was sich später als Aedificium herausstellen sollte. Es war ein achteckiger Bau, der aus der Ferne zunächst wie ein Viereck aussah.

Hier erzählt ein jüngerer Mann über seine Wanderung. Beides stammt aus dem „Namen der Rose“.

Dieses Buch hat drei Erzählstimmen. Am Anfang steht die Stimme des Wissenschaftlers, dann die des alten Abtes, der krank ist und auf seine Jugend zurückblickt. Dann springen wir in die Vergangenheit, der junge Mönch wandert zu einer Abtei. Die Erzählstimme spricht nicht mehr über das Alter, sondern erzählt uns Ereignisse, die der junge Mann wahrnimmt und erlebt.

Ach ja, die erste Stimme des Wissenschaftlers ist eindeutig die Stimme des Autors Umberto Ecco. Hatte ich nicht gerade gesagt, dass die Erzählstimme nicht die Autorenstimme sein sollte?
Richtig. Doch wie immer gibt es Ausnahmen. Am Anfang erzählt der Autor in dem „Namen der Rose“, wie er das Manuskript findet. Und das kann nur der Autor wissen, deshalb passt hier die Autorenstimme.

Erzählstimme, Erzählperspektive und Distanz

Die Erzählstimme erzählt die Geschichte, weckt Assoziation bei den Leserinnen und lässt in deren Kopf einen Film ablaufen. Die Erzählperspektive legt fest, aus welchen Augen wir die Geschichte erleben, was wir als Leser erfahren und was nicht. Die Distanz legt fest, wie nah wir den Ereignissen und Personen sind. Sie wird nicht von der Perspektive bestimmt. Auch wenn der auktoriale Erzähler dazu verleitet, aus großer Entfernung zu erzählen, kann er ganz nah an die Figuren herangehen. Und der Ich-Erzähler erzählt meist aus geringerer Distanz, kann aber genauso aus großer Distanz erzählen.

Die Erzählstimme wählt die Erzählperspektive und die Distanz.

Genretypische Erzählstimme

Jedes Genre hat seine „übliche“ Erzählstimme. Der Detektivroman erzählt mit einer taffen Stimme, die nichts erschüttern kann: „Das Leben ist hart, und ich erzähl euch davon.“ Der historische Roman mit einer Stimme, die altertümelnd erzählt. Der Liebesroman mit einer Stimme voller Sehnsucht. Der Jugendroman – forsch, etwas ironisch.

Die Autorenstimme

Wie schon gesagt: Wenn die Autorenstimme uns etwas erklärt, statt der Erzählstimme Raum zu geben, dann merkt das der Leser sofort. Und legt das Buch bald weg. Die Erzählstimme lässt im Leser einen Film ablaufen, jede Leserin darf ihren eigenen Film erleben. Die Autorenstimme schreibt vor, wie der Film auszusehen hat, und will, dass alle den gleichen Film sehen.

Mäandernde Erzählstimme

Haben Sie sich schon mal auf den ersten Seiten eines Buches gefragt: „Was will mir der Erzähler eigentlich erzählen?“ Das passiert, wenn der Autor noch nicht genau weiß, was eigentlich Thema und Konflikt seiner Geschichte sind. Dann springt er vom Hölzchen zum Stöckchen, präsentiert uns Lesern verschiedenste Konflikte oder Erklärungen, nach dem Motto: „Viel hilft viel.“
Da hilft nur eins: sich auf eine Sache konzentrieren.

Schwankende Erzählstimme

Eigentlich ist das, was erzählt werden soll, spannend. Nur leider eiert es wie ein Rad mit einem Achter. Die Erzählstimme wirkt nicht, sie wechselt die Perspektive oder wählt die falsche, benutzt unterschiedliche Sprachebenen, schildert alles aus gleichbleibender Distanz. Ähnlich wie die mäandernde Erzählstimme verliert sie bald die Spannung. Und das, obwohl sie sich auf eine Sache konzentriert.

Wenn das passiert, lohnt es sich, den Text neu zu schreiben. Mit der gleichen Handlung, aber anderem Handwerkzeug. Versuchen Sie es mit der Ich-Perspektive, wenn es vorher die allwissende Perspektive war, mit einer anderer Sprachebene (Umgangssprache? literarisch?). Oft wirkt es besser, wenn Sie näher an die Figuren herangehen. Legen Sie dann beide Fassungen nebeneinander. Wo ist die neue Fassung besser, zieht den Leser mehr rein, lässt in dessen Kopf einen Film ablaufen?

Aufgabe

Nehmen Sie eine Szene, die Sie geschrieben haben. Schreiben Sie sie neu, mit einer anderen Perspektive und aus unterschiedlicher Distanz. Legen Sie beide nebeneinander. Welche Unterschiede nehmen Sie wahr? Welche Version wirkt besser?

Nicht jeder kann jede Erzählstimme

Eine befreundete Autorin, Ute Apitz, erzählt meist in einer Erzählstimme mit Berliner Dialekt. Mich faszinieren diese Geschichten in berlinernder Stimme. Einmal las sie eine Geschichte auf Hochdeutsch vor. Allgemeines Gähnen. Dann hat sie die Geschichte ins Berlinerische gewandelt. Prompt haben alle gespannt zugehört. Obwohl es die gleiche Handlung war. Nicht jede Erzählstimme passt zu jeder Autorin.

Die Erzählstimme legt das »Wie« fest, nicht das »Was«

Der Plot beschreibt die Handlung. Aber wenn zwei Autoren mit unterschiedlicher Erzählstimme erzählen, wirkt die Handlung trotzdem ganz unterschiedlich. Möglicherweise wirkt die eine Fassung langweilig, die andere zieht den Leser in die Geschichte hinein. Oft ist es die Erzählstimme, der den Unterschied zwischen einer Durchschnittsgeschichte und einer Geschichte begründet, die lange im Gedächtnis bleibt und von vielen gelesen wird. Und wie in der Musik wirkt die Stimme oft unbewusst und entzieht sich der rationalen Erklärung. Nicht für alles gibt es Schreibregeln.

Fazit

Achten Sie auf Ihre Erzählstimme. Welches Handwerkszeug benutzt sie? Wie wirkt sie, wenn Sie das Handwerkszeug wechseln?

Links und Literatur

Schatten auf Schnee, Barbara Slawig, https://www.barbara-slawig.de/blog/ex.php?/topic/20031-erz%C3%A4hlstimme/&tab=comments#comment-337248

Erzähler und Erzählstimme in: Martin Huber & Wolf Schmid (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen, De Gruyter 2018

Der Erzähler, das lyrische Ich und ich

https://www.kapiert.de/deutsch/klasse-5-6/lesen/umgang-mit-literarischen-texten/gedichte-untersuchen-das-lyrische-ich/

Was dem Lektorat auffällt
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Lektorat und Überarbeitung: Die Erzählstimme

Was dem Lektorat auffällt: Handlung statt Infodump

Beardmore Gletscher, Antarktis

(C) Leo Aldan

Die Temperatur hätte niedriger sein müssen. Georgina Finley registrierte es mit einer gewissen Unruhe. Ihre Sinne stellten sich scharf. Es war immer das Wetter, das die Außeneinsätze in der Antarktis gefährdete. Jederzeit konnte es umschlagen.­

Georgina raste mit ihrem Schneemobil den im Schatten liegenden Beardmore Gletscher hinauf. Ohne vom Gas zu gehen, nahm sie eine Hand vom Lenker und wischte mit ihrem dicken Handschuh die Tropfen von ihrer Schneebrille. Sie taxierte den kristallklaren Himmel. So weit sah es ganz gut aus, aber hinter den weißen Bergspitzen der Supporters Gruppe zu ihrer linken schimmerte die Luft in mattem Gelb.

»Mir gefällt das nicht.« Camilles spröde Stimme kam aus dem Helmlautsprecher.

Georginas Assistentin hatte schon ein gutes Dutzend Male in der Antarktis gearbeitet. Sie und die Laborantin Nicky fuhren versetzt neben ihr und zogen Fahnen aufgewirbelten Schnees hinter sich her.

»Mir auch nicht«, sagte Georgina.

Camille lachte humorlos. »Sollen wir umkehren?«

Und die Mission so kurz vor dem Ziel abbrechen? Georgina hatte einen Verdacht. Über hundert Vulkane gab es unter dem Eispanzer der Antarktis. Vor ihrem inneren Auge explodierte das Eis. Der Krakatau wäre dagegen harmlos wie ein Feuerwerksböller. Sie schüttelte die Vorstellung ab. Sie brauchte Daten, die Aufzeichnungen aller Seismographen. Fehler konnte sie sich nicht leisten. Sie war die jüngste Teamleiterin der McMurdo-Station. Sie checkte das GPS: S84°49’55,2″ E163°35’42,8″ – Höhe 1768 Meter über Normalnull. Der Umkehrpunkt war bereits überschritten. Entschlossen drehte sie den Gasgriff bis zum Anschlag, der Motor heulte auf und das Schneemobil sprang über die Bodenwellen. »Wir fahren weiter zum oberen Camp.«

»Dort werde ich mir erst mal die Finger wärmen«, hörte sie Nicky aus dem Helmlautsprecher.

»Wenn du glaubst, deine Hände einem Mann unter den Pullover schieben zu können, täuschst du dich«, erwiderte Camille. »Das Camp ist unbesetzt.«

Das war so typisch für die beiden. Wo immer Nicky auftauchte, zog sie mit ihren Mandelaugen und ihrem sexy Körper die Blicke der Männer magnetisch an, was sie gerne ausnutzte. Die hagere Camille McFarland fand selten Aufmerksamkeit.

Georgina wischte die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Piste. Sie suchte den nächsten rotgeflaggten Markierungsstab. Eine halbe Meile vor ihr steckte er im Schnee. Dort verbargen sich Gletscherspalten.

Ein explosionsartiger Knall ließ sie zusammenfahren.

Camille deutete nach links Richtung Mount Bartlett. »Gletscherbruch.«

Das hatte gerade noch gefehlt! Es bedeutete neue Gletscherspalten – unmarkierte. Georgina drosselte die Geschwindigkeit. Das Eis unter ihr erschien ihr nicht mehr sicher. Sie steuerte nach rechts, näher an die Flanke der Skaar Ridge, deren Gipfel im Schein der flachen Sonne matt leuchteten. Sie hoffte, so genügend Abstand zu den Spalten zu bekommen.

Am Himmel zog Dunst auf.

Camille bemerkte es auch. »Da braut sich ein Unwetter zusammen.«

Georgina wünschte, sie könnte schneller fahren. Sie hielt sich so weit wie möglich von den Markierungen fern. Es wurden immer mehr: links dicht wie ein Röhricht, auch rechts kamen sie näher. Georgina fädelte sich klopfenden Herzens hindurch.

Major Healey, Kommandant der McMurdo-Station, hatte sie gewarnt: Letztes Jahr war auf dieser Strecke eines der Kettenfahrzeuge eingebrochen. Die Bergung war schwierig gewesen und einem Teammitglied musste wegen Erfrierungen ein Fuß abgenommen werden. Georgina zog es bei diesem Gedanken den Magen zusammen. Sie ließ kein Auge von der Piste.

Plötzlich registrierte sie eine Bewegung vom Polarplateau, eine Bö schüttelte ihren Schlitten und in Sekunden hüllte sie staubfeiner Schnee ein. Berge und Horizont verschwanden in einem diffusen Weiß, das alles verschluckte. Ein verdammtes White-Out! Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie musste jetzt die Nerven behalten. Kein abruptes Bremsmanöver, die Gefahr war viel zu groß, dass ihre beiden Mitarbeiterinnen in sie hineinrasten. Aber irgendwo vor ihr klafften Gletscherspalten. Schon hatte sie den Befehl zum Anhalten auf den Lippen, da zeichneten sich die Konturen der Landschaft wieder ab. Georgina nahm einen tiefen Atemzug. Glück gehabt. Wäre sie allein unterwegs, könnte sie mehr riskieren. Aber sie hatte Verantwortung. Sie musste so schnell wie möglich auf die Höhen, bevor es schlimmer wurde. »Bleibt genau auf meiner Spur«, rief sie ins Helmmikrofon und ließ den Motor aufheulen. Sie visierte die abgesteckte Spur an, behielt aber den Himmel im Auge.

Hinter der Skaar Ridge, die das Ende der Queen Alexandra Kette bildete, verließ sie den Beardmore Gletscher und steuerte den steilen Anstieg zum Polarplateau hinauf. Auf der Hochebene blies ihr ein heftiger Wind entgegen. Von Süden rollten schwarze Wolken heran.

Nicky schob sich mit ihrem Schneemobil neben Georgina. »Ist das nicht wunderschön«, rief sie begeistert und deutete auf den Himmel hinter sich.

Georgina drehte den Kopf und erblickte eine linsenförmige Lichterscheinung, die über der gesamten westlichen Bergkette aufzog. Im Zentrum erschien sie dunkellila, an den Rändern ging sie in mattes Gelb über. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. »Hast du so etwas schon mal gesehen, Camille?«

Die schüttelte den Kopf.

Instinktiv zog Georgina die Schultern ein. Unbekannte Wettererscheinungen häuften sich in den letzten Jahren — und meistens brachten sie nichts Gutes. Sie konzentrierte sich wieder auf die Piste. Mit Höchstgeschwindigkeit flogen die Schlitten über das glatte Schneefeld und in weitem Bogen um Mount Wild herum. In einem geschützten Tal dahinter befand sich das Camp und nur unweit davon war der Seismograph verankert. Der letzte, bei dem Georgina Akkus und Datenchips austauschen sollte. Danach war ihre Mission beendet. Mit den Daten von einundzwanzig Seismographen, die vier Jahre lang auf den Puls der antarktischen Vulkane gelauscht hatten, würden sie und ihr Team in die Vereinigten Staaten zurückfliegen. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie beim Gedanken an die Auswertung.

Plötzlich erschien der Schnee vor ihr glatt und glänzend. »Vorsicht! Glatteis!«, schrie sie ins Helmmikrophon. Schon geriet ihr Schneemobil ins Schlingern, der Anhänger verstärkte den Impuls und brachte das Gespann ins Schleudern. Georgina schoss das Adrenalin in die Adern. Im Augenwinkel sah sie Nickys Gefährt auf eine Kante zurutschen.

»Nicky!« Camilles panische Stimme mischte sich im Helmlautsprecher mit ihrer eigenen. »Gegensteuern! Gegensteuern!«

Während sie versuchte, ihr Schneemobil unter Kontrolle zu bringen, kippte Nickys Gespann über den Grat und verschwand.

Georgina stieß einen Schrei aus. »Nicky!« Mit Mühe brachte sie ihren Motorschlitten zum Stehen. Sie sprang von ihrem Sitz und sofort zog es ihr die Füße unterm Körper weg. Reflexartig krallte sie sich an Lenker und Sitzbank fest. »Nicky, melde dich!«, brüllte sie in ihr Helmmikrophon.

Keine Antwort.

Lektorat

Antarktis, drei Frauen mit Schneemobilen unterwegs. Schon das Umfeld sorgt für Spannung. Nach und nach werden die Anzeichen bedrohlicher, wir erleben die Antarktis, sie wird nicht einfach behauptet. Wir ahnen, es wird etwas passieren, wissen aber nicht was. Das erhöht die Spannung zusammen mit den Gefahren, die wir nach und nach kennenlernen.

Handlung statt Infodump oder Erklärbär

Da gibt es die Markierungen der Gletscherspalten, auf die die Drei achten müssen. Es wird nicht gesagt:

In der Arktis gibt es gefährliche Gletscherspalten, auf die Georgina achten musste. Sie waren durch Markierungen rechts und links von der Fahrspur und Georgina musste darauf achten, möglichst weit davon entfernt zu fahren.

Das wäre ein Infodump, den uns die Autorin mit ihrer Autorenstimme erzählen würde. Stattdessen steht dort:

Sie steuerte nach rechts, näher an die Flanke der Skaar Ridge, deren Gipfel im Schein der flachen Sonne matt leuchteten. Sie hoffte, so genügend Abstand zu den Spalten zu bekommen.

Am Himmel zog Dunst auf.

Camille bemerkte es auch. »Da braut sich ein Unwetter zusammen.«

Georgina wünschte, sie könnte schneller fahren. Sie hielt sich so weit wie möglich von den Markierungen fern. Es wurden immer mehr: links dicht wie ein Röhricht, auch rechts kamen sie näher. Georgina fädelte sich klopfenden Herzens hindurch.

Wir denken das, was Georgina denkt, sehen, was sie sieht, fühlen, was sie fühlt. Aber nicht durch Behauptungen (Georgina fühlte ihr Herz klopfen und war besorgt) sonder durch ihre Wahrnehmung (Sie fädelte sich klopfenden Herzens hindurch). Dass sie besorgt ist, dass Situation gefährlich ist, kann der Leser aus dem erschließen, was sie tut .

Dialog statt Infodump

Und wie erfahren die Leser etwas über das Aussehen?

Auch nicht durch Behauptungen (Georgina war mager, Nicky dagegen sexy), sondern durch einen Dialog:

Entschlossen drehte sie den Gasgriff bis zum Anschlag, der Motor heulte auf und das Schneemobil sprang über die Bodenwellen. »Wir fahren weiter zum oberen Camp.«

»Dort werde ich mir erst mal die Finger wärmen«, hörte sie Nicky aus dem Helmlautsprecher.

»Wenn du glaubst, deine Hände einem Mann unter den Pullover schieben zu können, täuschst du dich«, erwiderte Camille. »Das Camp ist unbesetzt.«

Das war so typisch für die beiden. Wo immer Nicky auftauchte, zog sie mit ihren Mandelaugen und ihrem sexy Körper die Blicke der Männer magnetisch an, was sie gerne ausnutzte. Die hagere Camille McFarland fand selten Aufmerksamkeit.

Wir bleiben in den Gedanken und Handlungen von Georgina, erleben, was sie denkt und tut.

Bleiben wir tatsächlich bei Georgina?

Sehen Sie sich nochmals den Abschnitt an. Gibt es Stellen, wo Sie Georgina verlassen? Wo nicht sie, sondern der Autor zu uns spricht?

Ja, die gibt es: Das war so typisch für die beiden.

Das sagt uns der Autor, nicht Georgina. Kein allzu großes Problem, auch ich habe beim ersten Lesen darüber hinweggelesen, es erst beim zweiten Mal bemerkt. Und es lässt sich leicht ändern, einfach diesen Satz ersatzlos streichen.

Perspektive und Distanz

Wenn es spannend wird, wenn die Szene eine Actionszene ist, sollte man möglichst nahe an den Personen bleiben. Also personale Perspektive. Auch wenn Sie in der auktorialen Perspektive schreiben, lohnt es sich, in solchen Szenen aus der Sicht der Personen zu erzählen. Nein, das ist keine Verletzung der Perspektive. Auch auktoriale Erzähler können ganz nah an ihre Figuren herangehen. Lassen Sie sich da nichts von Perspektiv-Dogmatikern einreden.

Korinthen

Oben habe ich einen Satz entdeckt, bei dem der Text in die Autorenstimme verfällt, die Perspektive Georginas verlässt. Eine Korinthe, sicherlich.

Gibt es noch weitere solche Korinthen?

Übung

Lesen Sie sich den Text noch einmal genauestens durch. Markieren Sie Stellen, in denen die Perspetive Georginas verlassen wird und dem Leser vom Autor etwas mitgeteilt wird, statt ihm das durch die Gedanken oder Wahrnehmungen Georginas das zu erleben.

Korinthen machen auch Mist

Warum reite ich hier so auf diesen Korinthen herum? Die allermeisten Leserinnen und Leser werden das gar nicht bemerken.

Richtig, sie werden es nicht bemerken.

Trotzdem ist es wichtig, dass Sie, liebe Autorinnen und Autoren, sich damit beschäftigen. Dafür gibt es zwei Gründe:

Erstens schult es ihre Textwahrnehmung. Wenn Sie solche Korinthen suchen, schärfen Sie Ihr Auge für Stil, Perspektive und Spannung. Sie werden in Zukunft weniger Korinthen schreiben, sie schneller entdecken.

Zweitens nehmen es Leser zwar nicht wahr, dennoch hat es Folgen. Vielleicht sind sie ein bisschen begeisterter von dem Text, finden ihn einen Tick spannender, ohne begründen zu können, warum das so ist. Und dann erzählen sie einen Tick aufgeregter von dem Buch, die Rezension bei Amazon hat mehr Feuer, lockt mehr Leser, sich das Buch anzusehen,

Alles gute Gründe, Korinthen ernst zu nehmen.

Müssen Sie ein Korinthenkacker werden?

Jedesmal den Text auf jede noch so kleine Korinthe zu prüfen, ist das wirklich nötig? Nein, wenn Sie ein erfahrener Autor sind. Ja, wenn Sie noch am Anfang stehen. Mit Erfahrung und Training werden Ihnen weniger Korinthen unterlaufen. Und wenn die Zahl geringer ist, dann verzeihen das Leser leichter. Zehn Druckfehler auf einer Seite brechen einem Text den Hals, einer auf zehn Seiten nicht. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber das ist so wichtig, dass ich es gar nicht oft genug sagen kann.
Und deshalb sollten Sie trainieren, Korinthen zu entdecken oder gar nicht erst zu schreiben.

Spannung

Spannung ist das wichtigste einer Geschichte. Wenn der Text nicht fesselt, klappt der Leser das Buch zu. Oder, wenn er zur pflichtbewussten Lesergattung gehört, quält sich bis zum Ende durch. Ganz sicher wird er nicht begeistert davon erzählen. Höchstens sorgsam gewählte Worte finden (»ganz nett«, »interessant«). Was glauben Sie, wie viele neue Leser wird die Aussage »ganz nett« generieren? Da ist selbst ein emotionaler Verriss wirkungsvoller.

In die Person verwandeln

Bei Actionszenen müssen Sie sich in Ihre s Heldin, Ihren Held verwandeln, denken wie er, fühlen wie er, sehen, riechen wie er.
Was bedeutet das in der folgenden Textstelle:

Nicky schob sich mit ihrem Schneemobil neben Georgina. »Ist das nicht wunderschön«, rief sie begeistert und deutete auf den Himmel hinter sich.

Georgina drehte den Kopf und erblickte eine linsenförmige Lichterscheinung, die über der gesamten westlichen Bergkette aufzog. Im Zentrum erschien sie dunkellila, an den Rändern ging sie in mattes Gelb über. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. »Hast du so etwas schon mal gesehen, Camille?«

Sie sind eine erfahrene Frau, die die Gefahren der Antarktis kennt, fahren so schnell, wie sie es gerade riskieren können, denn Sie müssen ins Camp. Und auf Spalten, Glatteis und weitere Gefahren achten.

Würden Sie da zurückschauen? Ganz sicher nicht. Vielleicht einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Wenn auf der Autobahn ihr Beifahrer sagt: »Schau mal zurück«, drehen Sie dann den Kopf? Oder sehen Sie in den Seiten- oder Rückspiegel?

Nadine ist Praktikantin, unerfahren, außerdem folgt sie der erfahrenen Leiterin. Gut möglich, dass sie zurückschaut. Georgina würde das nicht tun.

Zusammenfassung

Distanz und Perspektive müssen gerade bei Actionszenen stimmen. Hier passt das meiste, es gibt nur einige wenige Korinthen. Aber es lohnt sich, auch diese zu beachten.

Erstveröffentlichung: Tempest 2/2019

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