Was dem Lektorat auffällt: Nötige Infos

Blutige Bilder

(c) Ingrid Poljak

Montag, 09:30 Uhr

Fred saß in seinem Büro und stocherte die letzten Krumen des Frühstücksbrotes aus seinen Zähnen. Den Zahnstocher behielt er im Mund, während er im Geiste das Textbuch vor sich liegen hatte und seinen Text fürs Theater memorierte. In Wirklichkeit lagen nur die Papiere und Pläne für die Bauverhandlung vor ihm. Der letzte Auftraggeber war pleite, und Fred würde nur übers Gericht an einen Teil seines Geldes herankommen. Zum Glück war der Auftrag zum Bau eines Hotelrestaurants in Laab am Wald so gut wie fix. Für heute um elf war die Verhandlung angesetzt. Er hatte extra dafür neue Jeans angezogen und seine Lederjacke mitgenommen. Auf dem Land legten sie Wert auf gutes Aussehen. Baubeginn war in zwei Monaten geplant. Dann konnte er wieder zwei Baustellen parallel laufen lassen, die keine fünf Kilometer voneinander entfernt lagen. Er würde da sicher einige Kosten einsparen. Er konnte auch den neuen LKW bestellen, den er dringend brauchte. Wenn alles nach Plan lief, würde sich die Firma in einem halben Jahr erholt haben.

Er schob gerade den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel, als das Handy läutete.

Der Polier war dran. Mit Hans Nowak hatte Fred einen Mann gewonnen, auf den er sich verlassen konnte. Zurzeit betreute Nowak die Baustelle in Rodaun ganz hervorragend.

„Schlechte Nachrichten, Herr Feichtinger.“

„Sind die Polen nicht gekommen?“ Es war fünf nach halb zehn, die Männer müssten gerade die Pause beendet haben.

„Ich habe sie nach Hause geschickt. Katholiken, und morgen ist Feiertag. Da wird heute nichts mehr. – Aber das ist es nicht.“ Der Polier machte eine Pause und Fred war nahe daran, zum ersten Mal Nowaks Entscheidung nicht gutzuheißen. Er hielt sich zurück.

„Chef, wir sind auf eine Leiche gestoßen.“

„Auf eine … was?!“

„Da liegt eine Leiche in der Baugrube.“

Einen Augenblick lang hielt Fred inne, dann knallte er das Handy auf den Tisch und sprang auf. Riss seine Jacke von Kleiderständer, stürzte an seiner Vorzimmerdame vorbei. „Alle Anrufe abwimmeln! Termine absagen!“

An der Tür machte er kehrt, schnappte sein Handy vom Schreibtisch und hetzte nochmals an der Vorzimmerdame vorbei. „Bin in Rodaun!“

„Auch die Bauverhandlung in Laab?“

„Rufen Sie den Gemeinderat an, Resi. Sagen Sie, ich bin krank!“ Die Regiebesprechung im Theater heute Abend konnte er auch in den Kamin schreiben.

Während er durch die Breitenfurterstraße brauste, drückte er die Rückruftaste. „Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen. Und nichts anfassen bitte!“ Das klang, wie Fred es aus Fernsehkrimis kannte. „Und schicken Sie auch die restlichen Leute nach Hause. Zeitausgleich.“ Sein Polier hatte recht gehabt, die Polen nach Hause zu schicken. Er konnte es sich nicht leisten, die Arbeiter fürs Herumstehen und Gaffen zu bezahlen. Warum musste so etwas auch jetzt passieren, jetzt, schon zwei Monate, bevor er die Leute woanders einsetzen konnte?! Ein Toter auf einer Baustelle bedeutete Stillstand. Polizisten würden herumkriechen und Absperrleinen spannen, sie würden Fragen stellen. Die Gedanken in Freds Kopf stolperten durcheinander. Wir sind auf eine Leiche gestoßen, das klang nicht nach Arbeitsunfall. Er rief nochmals Hans Nowak an.

„Ein alter Toter?“ Hoffentlich kein alter Friedhof, auf dem noch viele Leichen begraben waren …

„Was? – Nein, eine junge Frau.“

„Ich meinte, schon lange tot?“

„Ich glaube nicht. Sie liegt unter einem Sandhaufen.“

Herrgott, hoffentlich ein Unfall, alles nur kein Mord! Nur keine langen Ermittlungen! Keine Baueinstellung! Nicht jetzt! Seine Hände umklammerten das Lenkrad, die Fingerknöchel traten weiß hervor. Er bremste scharf und fuhr trotzdem bei Rot über eine Kreuzung.

Die nächste Straße rechts. Das Auto schlitterte um die Ecke. Nach einem Kilometer hielt er neben dem Polier an, riss die Handbremse hoch. Nowak öffnete ihm die Wagentür und deutete ihm, sich zu beruhigen. Dort, wo zwei Arbeiter in der Baugrube standen, musste die Leiche liegen.

Während Fred dem Polier in die Baugrube folgte, wurde ihm klar, dass er vor drei Minuten beinahe einen Fußgänger überfahren hätte. Der Mann hatte hinter ihm drohend den Gehstock erhoben.

Ein Haufen grober Sand lag in der Baugrube, zwischen der Böschung und dem fertiggestellten Fundament. Sand, der gestern nicht dort gelegen war. Und es sah aus, als hätte jemand von oben die Leiche verschütten wollen. Unter dem unteren Ende des Sandkegels ragte ein nackter Unterschenkel hervor. Fred zog seine Jacke fester zusammen, trotzdem überlief Kälte seinen Rücken.

Hans Nowak sprang in die Grube und beugte sich nieder.

„Nicht berühren!“

Doch Nowak kehrte mit der Hand ein paar Sandklümpchen von der Haut der Leiche. Er hatte recht gehabt: es war das glatte Bein einer Frau mit rot lackierten Zehennägeln.

Fred drehte sich um, schaute zu den beiden Arbeitern, die jetzt etwas abseitsstanden und herüberglotzten. „Fahrt nach Hause. Nehmt euch Urlaub.“ Sein Blick fiel wieder auf das bleiche Bein.

„Aber die beiden haben die Leiche gefunden“, sagte Nowak. „Die Polizei wird sie fragen wollen.“

Das Wort Polizei begann in Freds Kopf zu hämmern. Aber gleichzeitig blitzte ein anderer Gedanke in seinem Hirn auf. Was, wenn die Polizei gar nicht kam? Was, wenn die Tote unter der Böschung verschwinden würde?

„Habt ihr die Polizei schon verständigt?“

Wieder rieselte ein Schauer über seinen Rücken, er zog die Schultern hoch und schüttelte sich ab. Die Tote einfach liegen lassen und begraben! Wie konnte er so etwas nur denken?!

Der Polier nickte. „Die müssen jeden Augenblick da sein.“

Fred bohrte die Schuhspitze in den Sandhaufen, dorthin, wo er den Kopf der Frau vermutete. Er schob ein paar Steinchen zur Seite. Sand und Kies von der Böschung rutschten nach. Aus dem Sandkegel schimmerten eine nackte Schulter und ein Stück roter Stoff hervor. Ein Wäschestück oder ein Halstuch. Da ertönte von weitem die Polizeisirene.

Lektorat

Fred sitzt am Schreibtisch, kaut auf einem Zahnstocher, repetiert seine Theaterrolle und vor ihm liegen Baupläne. Von einem Bauprojekt, das gerade Pleite gegangen ist und er muss zum Gericht.

Dann ruft der Polier einer anderen Baustelle an. Er hat eine Leiche gefunden.

Fesselt eine Szene?

Wie immer die erste Frage: Fesselt der Text?

In diesem Falle: am Anfang nicht. Ich hätte ihn aus der Hand gelegt, bevor ich zu den spannenden Teilen gekommen wäre.

Woran liegt es, dass er nicht fesselt? Ist es eine langweilige Szene? Fehlt beim Aufbau, bei der Struktur Spannung?

Nein, das Konzept der Szene hat Spannung. Eine Leiche auf der Baustelle und das bedeutet Ärger.

Was heißt: Die Struktur der Szene muss nicht überarbeitet werden. Aber sie braucht mehr Spannung.

Die Delete Taste ist die beste Arznei für mehr Spannung

Wenn die Struktur stimmt, aber der Anfang lahmt, dann wirkt die Entf– bzw. die Delete-Taste Wunder. Um das Tempo zu beschleunigen, unwesentliches zu streichen, den Text auf die Geschichte zu konzentrieren.

Doch was soll man streichen?

Was ist nötig?

Da hilft die Frage: Was ist für die Szene nötig? Ist es nötig, zu wissen, dass in zwei Monaten eine neue Baustelle aufgemacht wird, dass der bisherige Bauträger Pleite ist, dass Fred zum Gericht muss?

Nein. Dass er Termine hat, erfahren wir später, wenn er den Auftrag gibt, sie abzusagen. An der Szene ändert sich nichts, wenn man das streicht.

Braucht man den Zahnstocher und dass er seine Rolle repetiert?

Ja, denn das schafft eine Spannung zwischen dem, was Fred gerade im Kopf hat, was ihn interessiert und dem, was gleich passieren wird.

Also streichen wir mal im ersten Kapitel alles andere:

Fred stocherte die letzten Krumen des Frühstücksbrotes aus seinen Zähnen. Den Zahnstocher behielt er im Mund, während er seinen Text fürs Theater memorierte. Vor ihm lagen die Pläne für die Bauverhandlung.

Er schob gerade den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel, als das Handy läutete.

So, die ganzen Details sind fort. Was habe ich noch gestrichen? Sehen Sie sich nochmal die Originalfassung an.

Zwei Handlungen sind eine zuviel

Ich habe gestrichen, dass Fred in seinem Büro sitzt. Erstens ist das ein sehr passives Verb, das das Tempo drosselt. Zweitens kann der Leser das aus den folgenden Sätzen entnehmen, es ist überflüssig.

Oft beschreiben Autorinnen und Autoren in der ersten Fassung zwei Handlungen, verwenden zwei Verben. Wenn Sie Tempo haben wollen, ist es eine gute Idee, das weniger aktive Verb zu streichen. Hier also das »sitzen«. Auch das er »im Geiste das Textbuch vor sich liegen hatte« ist unwesentlich. Wichtig ist, dass er seine Rolle memoriert.

Lebendige Details

Was halten Sie von dem Zahnstocher? Würden Sie ihn streichen?

Nein. Denn das ist ein lebendiges Detail, das ein Bild weckt. Ein Mann, der auf seinem Zahnstocher kaut und seine Brötchenreste aus den Zähnen gepult hat.

Ein Detail ist immer gut. Wenn Sie mehrere solche Details in einer Szene haben, die Tempo verlangt, dann wählen Sie das eindrücklichste. Das, das Bilder weckt. Die Verhandlung weckt keine, auch die neuen Jeans nicht.

Was wir wissen müssen – und was nicht

Der Polier war dran. Mit Hans Nowak hatte Fred einen Mann gewonnen, auf den er sich verlassen konnte. Zurzeit betreute Nowak die Baustelle in Rodaun ganz hervorragend.

Auch hier werden zwei Dinge behauptet.

Erstens, dass Fred mit dem Polier jemand gewonnen hatte, auf den er sich verlassen konnte. Etwas umständlich erklärt.

Zweitens, dass er die Baustelle in Rodaun betreut. Und dass er das ganz hervorragend tut, was wieder das Gleiche sagt, wie der Satz davor.

Wieder die Frage: Welche der beiden Sätze brauchen wir? Dass der Polier verlässlich ist? Oder dass er die Baustelle in Rodaun betreut?

Ich plädiere für Rodaun. Nowak betreute die Baustelle in Rodaun.

Nicht darüber, dass er das hervorragend tut? Nein, noch sind wir am Anfang der Geschichte, da ist Tempo und Konzentration angesagt.

Dialog und Comic relief

Dann folgt der Dialog am Telefon.

Lesen Sie ihn bitte noch einmal durch. Was würden Sie dort streichen?

Erst geht es um die Polen, die zwar gekommen sind, aber sich auf den katholischen Feiertag konzentrieren, statt auf die Bauarbeiten. Doch die Polen und deren Religion sind nicht das Problem. Streichen würde ich sie nicht, sie sind die Ruhe vor dem Sturm und bringen einen Comic Relief. Sicher könnte man hier über die eine oder andere Stelle streiten, aber dann würden wir in den Bereich des unterschiedlichen Geschmacks kommen.

Und dann die Leiche. Jetzt ist es ernst. Der sorgsam geplante Arbeitseinsatz gerät ins Wackeln. Und wir erfahren hier, dass die Arbeiter in zwei Monaten anderswo eingesetzt werden sollen, das jetzt aber noch nicht möglich ist. Das stand auch im ersten Absatz des Textes. Dort allerdings unverbunden. Hier dagegen passt es. Fred würde genau daran denken.

Handlung mit Tempo

Dann rast Fred durch die Stadt. Wir wissen warum, deshalb passt diese Hektik. Die Autorin bleibt eng im Kopf von Fred. Keine Autorenbehauptungen mehr wie im ersten Absatz.

Lesen Sie sich den Rest des Textes noch einmal durch und markieren, an welchen Stellen etwas geändert werden sollte.

Achtung: Das ist die erste Überlegung. Immer gut, erst mal die Stellen zu markieren. Und beim zweiten Lesen zu überprüfen, welche dieser Markierungen Sie berücksichtigen müssen und welche nicht.

Die vermaledeiten Adverbien

Jeder Autor, jede Autorin verwendet sie in der ersten Fassung: Adverbien. Zum Beispiel in diesem Satz:

Red drehte sich um, schaute zu den beiden Arbeitern, die jetzt etwas abseits standen und herüberglotzten.

Braucht man den zeitlichen Hinweis, dass sie »jetzt etwas« abseits stehen?

Nein. Vermutlich stehen die schon seit einiger Zeit abseits. Und selbst, wenn nicht, die Zeit spielt keine Rolle. Wohl aber das Glotzen und Abseitsstehen.

Wann man hinschauen sollte

Und dass Fred zu ihnen herüberschaut? Habe ich nicht oft genug geschrieben, dass es unwichtig ist, dass jemand schaut oder etwas hört? Dass das, was er sieht, wichtig ist und man das Schauen streichen könne?

Nein, hier würde ich es ausnahmsweise nicht streichen. Denn hier hat das Schauen eine Funktion. Fred fallen sie auf und deshalb will er sie nach Hause schicken. In diesem Falle sollte das Schauen stehen bleiben, weil es eine Funktion hat.

Beginnen Sie nicht zu handeln

Das Wort Polizei begann in Freds Kopf zu hämmern.

Beginnen ist eins der Vampirverben, die häufig in der ersten Fassung auftauchen und dem Hauptverb die Kraft aussagen. In diesem Fall dem Hämmern. Also besser:

Das Wort Polizei hämmert in Freds Kopf.

Etwas besser. Aber nicht viel. Hämmert auch Ihnen das »Hämmern« unrund beim Lesen im Kopf herum? Bei mir ja.

Wichtig ist die Polizei. Das Wort löst bei Fred Schrecken aus. In solchen Fällen können Sie das Wort einfach stehen lassen, ohne weitere Begleitmusik.

Polizei! Absperrungen! Stillstand!

Und ein anderer Gedanke blitzte in seinem Hirn auf. Was, wenn die Polizei gar nicht kam?

Was habe ich hier gemacht? Ich habe nur drei Worte hingeschrieben, die an die Überlegungen beim Telefonanruf anschließen. Weil der Leser die bereits kennt, muss ich nicht ausführlich sagen, was das bedeutet. In Actionszenen (und auch im Dialog) muss man nicht immer vollständige Sätze bilden. Abgebrochene Sätze, einzelne Worte können das Tempo erhöhen.

Und dann kommt die Wende. Was wäre, wenn …

Da und Zeitangaben

Am Schluss grübelt Fred, doch dann unterbricht die Polizeisirene sein Grübeln. Guter Schluss.

Muss man extra betonen, dass das »dann« oder »da« geschah?

Nein eigentlich reicht der Satz: »Von weitem ertönte die Polizeisirene.« Als eigener Absatz und Schlusspunkt der Szene.

Wenn klar ist, wie der Zeitablauf ist (Fred überlegt, dann werden die Überlegungen durch die Polizeisirene unterbrochen), müssen Sie das nicht extra betonen. »Dann«, »Da«, »Während«, »Als« können Sie meistens streichen und werden damit das Tempo steigern.

Zusammenfassung

Wenn die Szene selbst spannend ist, Sie aber beim Lesen das Gefühl haben, dass der Spannungsbogen durchhängt, lohnt es sich, zu streichen. Langatmige Szenen gewinnen dadurch Spannung und Tempo. Denken Sie daran: Die Entf- bzw. Delete-Taste ist der beste Freund der Autorinnen und Autoren.

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