Überarbeitung und Lektorat: Vampir-Verben II

Der Mensch sieht nicht nur, er kann riechen, schmecken, hören und tasten. All das können Autorinnen nutzen und Autoren auch. Vor allem die ungewöhnlichen Sinnesempfinden sind hilfreich, um im Leser einen Film ablaufen zu lassen. Wer nicht nur kleine, verfallene Häuser wahrnimmt, sondern auch den Geruch nach abgestandenem Urin, ein trauriges Lied aus einem Keller hört, den Verfall schmeckt, die rauen bröckelnden Ziegeln tastet, holt den Leser in die Geschichte.

Vampire der Sinne.

Nur leider gibt es auch hier Vampir-Verben. Die die eigentlichen Wahrnehmungen in den Nebensatz vertreiben, ihnen das Blut aussaugen und im Hauptsatz in den Vordergrund schieben, wer etwas wahrnimmt, ist nicht gut.

Hauptsatz und Hauptsache

007 sah, dass ein Auto auf ihn zuraste

Hauptsatz und damit Hauptsache ist: Er sah etwas. Das ließe sich natürlich noch verschärfen: 007 sah mit seinen Augen, dass …
In der Erstfassung fallen solche Formulierungen nicht auf. In der Überarbeitung und dem Lektorat können Sie den Hauptsatz streichen und die wesentlich Aussagen in Vordergrund schieben:

Ein Auto raste auf 007 zu

Distanz und Perspektive

Schreiben Sie, was passiert, statt wer es wahrnimmt, Dann ist der Leser direkt in der Szene, minimale Distanz. Die Perspektive ist die von 007.

007 sah, dass ein Auto auf ihn zuraste, da haben wir große Distanz, der Hauptsatz, dass er etwas sah, hat sich zwischen das Ereignis und den Leser geschoben. Auch die Perspektive hat sich verändert. Jetzt erzählt uns der Autor, was passiert: 007 sah etwas. Niemand denkt:

Ich sehe, dass ein Auto auf mich zurast.

Das gilt für alle Sinne.

007 roch, dass es im Gang nach alter Pisse stank.

Hier wird zur Hauptsache, dass 007 etwas roch. Was verrät uns der Nebensatz, der deshalb den konkreten Geruch zur Nebensache macht.

Im Gang stank es nach alter Pisse.

Auch für´s Hören, Schmecke, Fühlen gilt dies. Wenn Sie die Sinne direkt benennen, schaffen Sie Distanz. Und erklären als Autor den Leserinnen, dass da etwas wahrgenommen wird. Statt ihnen zu zeigen, was da wahrgenommen wird.

007 hörte, dass Gesang aus dem Keller. → Im Keller sang eine Frau.

007 fühlte, dass die Ziegel unter seinen Händen bröckelten. → Die Ziegel unter seinen Händen bröckelten.

Und wann Wahrnehmung benennen?

Natürlich sind sehen, riechen, hören, keine sinnlosen Wörter. Wenn die Wahrnehmung die Hauptsache ist, dann ist es sinnvoll, sie auch zu benennen.

007 sah NICHT, dass ein Auto heranraste. Oder: 007 sah nicht das heranrasende Auto.

Hier können Sie „sehen“ nicht streichen.

Plötzlich hörte er Gesang aus dem Keller. Auch können Sie das „hören“ nicht streichen, weil es die Hauptsache ist.

Die Dosis macht das Gift

Gefährlich sind die Vampir-Verben der Wahrnehmung, weil sie sich schnell vermehren. Wer immer betont, dass jemand etwas sieht, hat schnell eine ganze Menge von Sätzen der Art. „Sie sah, dass …“

Sie sah, dass die Tulpen im Garten blühten. Sie roch, dass der Flieder duftete. Sie fühlte die milde Luft, die über ihre Wangen strich. Sie hörte die Amseln singen.

Damit schaffen Sie nicht nur Distanz, sondern auch Langeweile mit Sätzen, die alle mit „Sie + wahrnehmen“ anfangen.

Die Tulpen blühten im Garten, der Flieder duftete, milde Luft strich über ihre Wangen und die Amseln sangen.

Natürlich ließe sich das auch noch etwas anschaulicher erzählen, aber besser als sie hörte, er sah, sie roch, er fühlte, sie schmeckte ist es allemal.

Weniger ist mehr

Generell sollten Sie sich bei der Überarbeitung überlegen, was wirklich nötig ist , um die Leser in die Geschichte zu ziehen. Und was schafft Distanz, weil es überflüssig ist und den Leserinnen erzählt, was sie sowieso wissen. Eine Geschichte lebt davon, dass der Autor nicht alles vorkaut. Das wäre ein ausgefülltes Kreuzworträtsel und interessiert niemanden. Lassen Sie den Lesern Raum, den sie füllen können.

Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann. (Antoine de Saint-Exupery, Verfasser von „Der kleine Prinz“)

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Überarbeitung und Lektorat: Vampir-Verben II

Überarbeitung und Lektorat: Vampir-Verben I

Verben, auch Tätigkeitsworte genannt, sind toll. Sie sorgen für das Tempo in der Geschichte, erhöhen die Spannung, lassen einen Film im Leser ablaufen.

007 legte den Gang ein, gab Vollgas, der Aston Martin raste auf das Tor zu, das zersplitterte. Die Bösewichte schrien empört auf und schüttelten ihre Fäuste. Vergeblich. Der Aston Martin schoss die Straße hinab der Freiheit entgegen.

Mit weniger Verben würde das längst nicht so wirken:

Die Steigerung der Gaszufuhr durch den bevollmächtigten Agenten führte zur schnellen Beschleunigung des Wagens und in der Folge wurde eine grundlegende Zerstörung des Tores und eine Möglichkeit der Flucht erreicht.

Soweit, so gut. Aber gilt das auch für alle Verben?
Mitnichten. Es gibt Verben, die unanschaulich sind. Zum Beispiel oben „wurde erreicht“. Und es gibt Hilfsverben (werden, haben, etc.)

Außerdem gibt es Vampir-Verben. Vampir-Verben treten zusammen mit anderen auf und saugen ihnen die Kraft aus.

007 begann, den Gang einzulegen, versuchte, Vollgas zu geben …

Die gleiche Tätigkeit wird durch zwei Verben bestimmt, eins davon wenig anschaulich, das aber für sich die zentrale Stellung verlangt und dem anderen die Lebendigkeit aussaugt. Natürlich muss 007 „beginnen“, „versuchen“. Aber müssen Sie das jedes Mal erwähnen? Viel eindrücklicher, wenn einfach das aktivere, das anschaulichere Verb die Handlung festlegt.
In der ersten Fassung eines Romans verwendet jeder solche Vampir-Verben. Da beginnt der Morgen zu dämmern, der Held fängt an zu laufen, der Bösewicht beginnt seine Intrigen zu spinnen und versucht sie in die Tat umzusetzen.
Deshalb sind Überarbeitung und Lektorat so wichtig. Dort streichen Sie alle Vampir-Verben. Die Delete-Taste hilft hervorragend gegen Vampire. Und Sie werden feststellen: Allein dadurch wirkt ihr Text lebendiger, aktiver, lässt im Leser einen Film ablaufen.
Und was sind die üblichen Verdächtigen, auf die Sie bei der Überarbeitung achten sollten? Hier stelle ich die Wichtigsten vor:

Beginnen

Er begann zu laufen.

Laufen ist ein inhaltlich starkes Verb, das Bilder wecken kann. Beginnen ist schwach, irgendwann beginnt natürlich alles. Aber muss man das auch sagen? Besser: Er lief los.
Dann kann „beginnen“ nicht mehr beginnen, dem Verb „laufen“ das Blut auszusaugen.

Anfangen

„Anfangen“ ist der Cousin von „beginnen“. Auch „anfangen“ können Sie bei der Überarbeitung anfangen zu streichen Oder besser gesagt: Streichen Sie es.

Versuchen

Er versuchte, den Wagen zu starten. Der Motor sprang an, der Wagen fuhr an.

Versuchen Sie besser, ohne Versuchen auszukommen: Er startete den Wagen, der Motor sprang an …
Wie bei allen Vampir-Verben gibt es Stellen, da sind diese Verben dennoch nützlich.
Er versuchte, den Motor zu starten. Doch der röchelte nur.
Da schwächt „versuchen“ das Verb „starten“ zurecht. Hier passt es, dem Verb „starten“ die Kraft zu nehmen.

Bekommen

Ich bekam eine Gänsehaut, die mir den Rücken hinab lief.
Warum nicht gleich: Eine Gänsehaut lief mir den Rücken hinab.

Spüren

Er spürte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte.
Auch da saugt das Vampir-Verb „spüren“ die Kraft aus dem beschleunigten Herzschlag. „Spüren“ steht im Hauptsatz, ist also das Wichtigste. Und schwächt das wirklich Wichtige: den beschleunigten Herzschlag.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, das hat mehr Blut und Leben.

Scheinen

Alles schien sich zu verändern und das Licht schien zu erlöschen.

Fassen Sie Mut, liebe Autorin, lieber Autor. In der ersten Fassung weiß man noch nicht sicher, was passiert, da verwendet man gerne »scheinen«. Bei der Überarbeitung sollten Sie klar sagen, was Sache ist. Erlischt das Licht oder erlischt es nicht? Wenn Sie es nicht wissen, wer dann? Solche Konstruktionen scheinen dem Leser ein Zeichen dafür zu sein, dass der Autor sich nicht festlegen will.
Das Licht erlosch langsam, alles veränderte sich, da wird der Szene nicht das Blut ausgesaugt, sie bleibt lebendig.

Befinden

Er befand sich in einem Wald voller Gefahren.
Die Reise befand sich in der kritischen Phase.

Da wird zwar keinem Verb das Blut ausgesagt, besonders lebendig klingt der Satz dennoch nicht. »Befinden« ist ein statisches Verb, erinnert an Beamtendeutsch.

Immer wieder knackten Zweige und ließen ihn zusammenfahren. Gab es hier Schneelöwen? hat mehr Blut als im Wald befindliche Gefahren.
Der Täter befand sich in alkoholisiertem Zustand kann sich in einem Polizeibericht befinden, in einem spannenden Roman sollte der Autor aktiver formulieren.

Der Täter wankte, er hatte dem Eisbier mehr zugesprochen, als gut für ihn war, klingt doch etwas lebendiger.

Vampire zu streichen, kann zur Gewohnheit werden

Vampir-Verben zu verbessern ist einfach. Und Sie werden bald feststellen, dass Sie in der Überarbeitung beginnen werden, „beginnen“ & Co. automatisch zu streichen. Das wird schnell zu einem Reflex, der Ihre Texte ohne viel Arbeit besser macht. Und nach kurzer Zeit werden Sie auch in der ersten Fassung viel weniger Blut durch Vampire verlieren.
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