Nightwalker
Vierundzwanzig Augenpaare starrten sie an.
Taja hielt auf der Türschwelle inne und schaute sich in dem hellen Raum mit den hohen Fenstern um. An den gelbgestrichenen Wänden hingen weichgezeichnete Poster, knallbunte Landkarten und peinliche Werke aus dem Kunstunterricht. Sie verzog den Mund. Wie im Kindergarten. Das hier sollte das Klassenzimmer der 11a sein? In ihrer Schule in Berlin waren die Wände von einem schmutzigen Grau gewesen und kahl, ohne irgendeinen Schmuck, der die trostlose Atmosphäre aufgeheitert hätte. Reduziert auf das Wesentliche. Keine Ablenkung von der täglichen schulischen Langeweile.
Ihre neuen Mitschüler mit den sauberen Jeans und den gebügelten Shirts passten perfekt in diese keimfreie Umgebung, wie sie da in kleinen Gruppen zusammenstanden und sie mit offenen Mündern anglotzten. Ein Haufen angepasster Loser. Kein Wunder, dass sie auffiel wie ein Papagei in einem Taubenschlag mit ihren schwarzen Klamotten, dem silbernen Ohrring mit dem Totenkopf und den Piercings im rechten Nasenflügel und in der Unterlippe.
Wie sie das hasste! Dauernd eine neue Stadt, eine neue Schule, neue Lehrer und Mitschüler. Und jetzt dieses Kaff am Ende der Welt, in dem ihr Vater eine Stelle als Leiter des Stadtmuseums gefunden hatte. Was für ein Absturz nach Berlin, dieser hektischen und aufregenden und geilen Stadt, in der sie zwei Jahre gelebt und die sie geliebt hatte. Ihrer Mutter war es egal gewesen, wohin sie zogen, als Lektorin konnte sie von überall arbeiten, wo ihr Computer stand. Und ihr jüngerer Bruder Tom hatte unbedingt weg gewollt, weil der Verweis von seiner Berliner Schule gedroht hatte. Tajas Einwände waren von ihrer Familie einfach weggewischt worden.
Sie zuckte ergeben die Schultern. Jammern half nichts. Sie musste da durch. War ja nicht das erste Mal. Sie trat in das Klassenzimmer und ging auf den einzigen Zweiertisch zu, der nicht von Jacken und Taschen vereinnahmt war. Ein großer, schlaksiger Junge mit blonder, übers halbe Gesicht fallender Haartolle stellte sich ihr in den Weg.
„Der Tisch ist besetzt.“
Sie schob kampfbereit das Kinn vor. „Ach? Ich seh hier niemand sitzen.“
„Ich halte ihn frei.“ Der Junge grinste überheblich. „So was macht man schließlich für seine Freunde.“
Schon klar. Der blonde Speichellecker bekam sicher das Bundesverdienstkreuz für seine edle Tat in den Hintern geschoben.
„Du kannst dich da vorn hinsetzen.“ Die Stimme gehörte zu einem kleinen, stämmigen Jungen mit dunklen, kurzgeschorenen Haaren. „An den Tisch vorm Pult. Neben … da ist noch ein Platz frei.“
Taja war das Zögern des Kurzgeschorenen nicht entgangen. Sie schlängelte sich durch die im Klassenraum verteilen Grüppchen hindurch bis zu dem Zweiertisch vor dem Lehrerpult und ließ ihre Tasche mit lautem Knall auf die unbenutzte Tischseite fallen.
Das Mädchen, das zusammengesunken auf ihrem Stuhl hockte und ihre Nasenspitze in ein Buch steckte, fuhr zusammen und schaute auf. Schmales, blasses Gesicht, eckiges, dunkles Brillengestell, panischer Blick, mausbraune, dünne Haare, die glatt bis auf die Schultern hingen, zerknittertes, hellgraues Shirt mit einem Kaffeefleck.
„Hi! Cool, dich kennenzulernen.“ Taja lächelte das verschreckte Häschen so freundlich an, wie sie konnte. Das Lächeln sah mit den Piercings in Mund und Nase wahrscheinlich eher bedrohlich aus. „Ich bin Taja. Aus Berlin.“
Das Häschen blinzelte, sagte aber kein Wort. Taja stöhnte innerlich auf. Musste sie dieses Schuljahr etwa neben einer Taubstummen verbringen? Sie zog den freien Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich.
„Ich bin Amelie.“ Die Stimme klang voll und tief und passte nicht zu der verschüchterten Haltung des Mädchens. „Kannst du deine Tasche ein Stück zu dir ziehen?“
Taja stierte ihre Sitznachbarn an. Was war denn in die gefahren?
„Deine Tasche reicht in meine Seite hinein“, erläuterte Amelie und tippte mit der Spitze ihres rechten Zeigefingers an die vordere Tischkante. „Hier, an dem Strich, ist deine Tischseite zu Ende. Das ist die Grenze.“
Aha. Eine Grenze. Taja kniff die Augen halb zusammen und starrte durch den schmalen Spalt zwischen ihren Augenlidern auf die Stelle, die Amelies Fingerspitze berührte. Tatsächlich. Dort befand sich ein dünner, blauer Kugelschreiberstrich. Und diese Grenze durfte sie mit ihren Sachen nicht überschreiten?
„Das meinst du nicht ernst?“
„Doch.“ Amelie runzelte die Stirn. Ihre Stimme klang scharf. „Jede von uns hat einen halben Tisch. Und wenn wir beide uns daran halten, kriegen wir auch keinen Streit.“
Taja schüttelte ungläubig den Kopf. Das musste sie träumen. War sie statt in die elfte Jahrgangsstufe im Gymnasium in die erste Klasse der Grundschule geraten?
„Keinen Stress, alles okay“, antwortete sie betont friedfertig und zog die Tasche auf ihre Seite. Bei dieser Psychopathin war Vorsicht angesagt. Die konnte jeden Moment eskalieren. Besser, sie hielt haargenau die Grenze ein. Zumindest am Anfang. In ein paar Wochen, wenn sie sich eingewöhnt hatte, konnte sie immer noch die Grenzverhandlungen mit ihrer Sitznachbarin beginnen.
„Lahme Truppe“, sagte Amelie.
Taja blinzelte. „Was?“
„Nightwish.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Taja begriff, wovon ihre Sitznachbarin sprach. Das schwarze Shirt mit dem Logo von Nightwish hatte sie heute Morgen bewusst angezogen, damit ihre neuen Klassenkameraden gleich kapierten, wie sie drauf war. Ein Statement eben. Musikalisch. Hier in der Provinz hörten sie wahrscheinlich Helene Fischer. Oder Marianne Rosenberg.
„Ich steh auf Slayer“, erklärte Amelie. „Und Paradise Lost. Da war ich letzten Monat auf einem Konzert. So was von geil, sag ich dir.“
„Oh!“ Mehr fiel Taja nicht ein.
„Symphonic Metal wie von Nightwish ist ja nicht übel“, fuhr Amelie fort. „Aber ich zieh mir lieber die derberen Sachen rein.“
Taja nickte nur. Der Punkt ging klar an ihre Sitznachbarin. Die Provinz hatte musikalisch mächtig aufgerüstet. Den Fehler, ihre Mitschüler zu unterschätzen, würde sie kein zweites Mal begehen.
„Dann magst du sicher auch Mercenary“, meinte sie. „Und Draconia“.
Amelie grinste. „Auch geil, die beiden. Mercenary sollen im Winter nach Deutschland kommen, hab ich gehört. Wenn du Lust hast, können wir ja zusammen zum Konzert gehen. Oder ist dir das zu hart?“
„Zu hart kann es für mich gar nicht geben.“ Taja grinste zurück.
Ihre Sitznachbarin nickte. „Also abgemacht. Echt cool, dass du auch auf Metal stehst. Die anderen Mädels in der Klasse hören alle nur so einen weichgespülten Scheiß.“
„Wie Helene Fischer?“
„Du hast`s erfasst.“ Amelie lachte. „Ist nicht so mein Ding.“
Taja fiel in ihr Lachen ein. Vielleicht würde es in der Provinz doch nicht so schlimm werden, wie sie befürchtet hatte.
Lektorat
Wie immer die Frage: Finden Sie die Geschichte spannend? Und warum?
Es ist immer eine gute Übung, sich zu überlegen, warum etwas spannend ist oder warum auch nicht. Das schärft den Blick für die eigenen Texte. Autorinnen (und auch Autoren) sollten jede Gelegenheit nutzen, die Wirkung von Texten zu beobachten. Schreiben Sie ruhig auf, warum Sie einen Text spannend finden und warum nicht. Noch besser: Schreiben Sie auf, welche Techniken der Autor benutzt hat. Welche funktionieren und welche nicht. Und warum.
Zurück zur Ausgangsfrage: Ich halte den Text für spannend. Und für ziemlich gelungen.
Spannungsbogen
Warum ist der Text spannend? Dafür gibt es mehrere Gründe. Wir erleben Taja in einer neuen Klasse. Also in einer neuen Situation. Die Autorin erzählt uns nicht lang den Alltag, das, was jeden Tag passiert, sondern beginnt mit einer neuen Situation. Auch wenn Taja tut, als stünde sie über der Situation, ist sie angespannt. Das ist typisch für Jugendliche. Sie tun cool, aber sind längst nicht so abgebrüht, wie sie vorgeben. Wir haben also gleich zu Anfang einen Konflikt.
Der steigert sich. Sie sucht sich einen Platz aus, doch der ist belegt. Ein kurzer Dialog wie ein Pingpong-Spiel, sie will den Platz, der andere will ihn nicht freigeben. Weder Taja noch der Junge erklären lange, warum und wieso. Das ist bei guten Dialogen ganz wichtig. Lassen Sie nicht die Personen erklären, was warum vor sich geht. Das kann der Leser sich denken. Eine Lücke, ein Subtext zwischen den Zeilen, der die Spannung erhöht.
Schließlich gibt Taja auf, der erste Konflikt ist zu ihren Ungunsten ausgegangen. Wir erleben das durch Tajas Augen. Der Autor erklärt es uns nicht. Wir Leser fühlen die Enttäuschung. Kein »Taja war enttäuscht«, mit dem die Autorin uns die Gefühle mitteilt.
Danach teilt ihr ein anderer mit, dass vorne, direkt vorm Lehrerpult, ein Platz frei ist. Entspannung nach dem ersten Konflikt. Aber nicht ganz, denn irgendwas stimmt mit dem Platz nicht. Wir ahnen, dass mit der Schülerin daneben etwas nicht stimmt. Dass dort gleich der nächste Konflikt wartet.
Und der kommt unvermeidlich. Mit dem Streit über die Grenze. Oh Gott, neben was für einer Pedantin ist Taja hier gelandet? Der Leser leidet mit der Heldin. Ganz wichtig für die Spannung: Der Leser muss die Gefühle der Helden erleben. Es nützt nichts, sie dem Leser per Autorenstimme mitzuteilen.
Dann wieder Entspannung. Und Überraschung. Die graue Maus ist gar nicht so grau, sondern noch härter als Taja. Zumindest, was ihren Musikgeschmack angeht. Der Konflikt wird aufgelöst; die beiden Mädchen haben viel gemeinsam und verabreden sich. Entspannung.
Aber wir ahnen: Lange wird diese Entspannung nicht vorhalten. Der Autor wird Taja stantepede in den nächsten Konflikt stürzen.
Dieser geschickte Aufbau Spannung (Konflikt) – Entspannung – größere Spannung – Überraschung – Entspannung hält den Leser gefangen. Der Angelhaken ist ausgeworfen.
Übung:
Untersuchen Sie in einem eigenen Text, wie sich dort Spannung und Entspannung aufbauen.
Haben Sie einen Konflikt? Wie wird er gelöst und gleichzeitig der nächste Konflikt angedeutet?
Rückblende
Gleich im zweiten Absatz gibt es eine Rückblende:
In ihrer Schule in Berlin waren die Wände von einem schmutzigen Grau gewesen und kahl, ohne irgendeinen Schmuck, der die trostlose Atmosphäre aufgeheitert hätte. Reduziert auf das Wesentliche. Keine Ablenkung von der täglichen schulischen Langeweile.
Rückblenden auf der ersten Seite sind gefährlich. Sie dienen oft nur dazu, dass der Autor dem Leser Dinge erklären kann, von denen er überzeugt ist, dass der Leser sie wissen muss. In der Regel bremsen sie den Lesefluss, und ich streiche sie. Der Text wird dann spannender.
Könnte man obige Rückblende streichen, und der Text würde besser werden?
Nein. Aber warum nicht?
Weil diese Rückblende durch den Gegensatz der beiden Klassenzimmer ein gutes Bild des neuen Klassenzimmers zeichnet. Und Taja lebendiger werden lässt. Sie findet graue Klassenzimmerwände besser als solche mit Wandschmuck. Ungewöhnlich. Nicht das Übliche.
Und wie ist es mit der nächsten Rückblende?
Wie sie das hasste! Dauernd eine neue Stadt, eine neue Schule, neue Lehrer und Mitschüler. Und jetzt dieses Kaff am Ende der Welt, in dem ihr Vater eine Stelle als Leiter des Stadtmuseums gefunden hatte. Was für ein Absturz nach Berlin, dieser hektischen und aufregenden und geilen Stadt, in der sie zwei Jahre gelebt und die sie geliebt hatte. Ihrer Mutter war es egal gewesen, wohin sie zogen, als Lektorin konnte sie von überall arbeiten, wo ihr Computer stand. Und ihr jüngerer Bruder Tom hatte unbedingt weg gewollt, weil der Verweis von seiner Berliner Schule gedroht hatte. Tajas Einwände waren von ihrer Familie einfach weggewischt worden.
Würde der Text gewinnen, wenn ich diesen Absatz streichen würde?
Nein.
Warum nicht?
Weil wir dieser Absatz durch die Augen von Taja erleben. Sie betritt ein neues Klassenzimmer. Der Stil ist ein ganz anderer als der der Klasse in Berlin. Und damit wird ihr nochmals klar, dass sie diesen Schulwechsel nicht will. Diese Rückblende ist keine Erläuterung des Autors, sondern das, was Taja durch den Kopf geht. Was an dieser Stelle passt. Obendrein steigert es den Konflikt. Nicht nur, dass sie jetzt in eine neue Klasse kommt, sich neu orientieren muss. Obendrein ist es etwas, das ihr aufoktroyiert wurde. Gegen ihren Willen. Wir leiden mit ihr. Ständig wird sie durch die Weltgeschichte gescheucht, immer neue Schulen.
Erzählstimme
Die Erzählstimme ist die Stimme, die uns die Geschichte erzählt. Das ist nicht Taja, denn wir haben keine Ich-Erzählerin. Dennoch ist die Stimme dicht an Taja, schildert die Ereignisse durch ihre Augen. Es ist keine distanzierte Stimme, kein Autor, der uns erklärt, was Sache ist. »Und jetzt dieses Kaff am Ende der Welt«, das ist Tajas Stimme.
Mancher Autor würde schreiben: »Taja fand, dass dies ein Kaff am Ende der Welt war.« So ein Satz legt sofort Distanz zwischen Taja und Leser. Blickt von außen auf die Person, und der Leser erfährt etwas, aber er fühlt nicht mit Taja mit.
Auch aus einem anderen Grund funktioniert die Erzählstimme. Sie erzählt in der Art, wie Jugendliche sprechen. Viele Autoren verfassen Jugendbücher in einer Sprache, die einem Erwachsenen gehört. Behäbig, mit ausführlichen Begründungen. Tun Sie das nicht. Lauschen sie Jugendlichen. Wie sprechen die untereinander? Lesen Sie gute Jugendbücher. Wie fühlt sich die Erzählstimme von »Tschik« an, von »Der Fänger im Roggen«, von „Huckleyberry Finn«?
Sie müssen nicht den aktuellen Jugendslang verwenden. Der ändert sich sowieso alle paar Jahre. Aber die Leser müssen eine jugendliche Erzählstimme spüren. Locker, scheinbar kann sie nichts erschüttern, sie steht über allem. »Ein Haufen angepasster Loser. Kein Wunder, dass sie auffiel wie ein Papagei in einem Taubenschlag.« Und zwischen den Zeilen spüren wir, wie verletzlich Taja ist, auch wenn sie noch so cool und überlegen tut.
Beschreibung
Wie sieht Taja aus? »Kein Wunder, dass sie auffiel wie ein Papagei in einem Taubenschlag mit ihren schwarzen Klamotten, dem silbernen Ohrring mit dem Totenkopf und den Piercings im rechten Nasenflügel und in der Unterlippe«, so wird sie beschrieben. Sie schaut nicht in den Spiegel, der Autor erklärt uns nicht: »Taja war sechzehn, trug schwarze Klamotten, hatte einen silbernen Ohrring mit Totenkopf im Ohr und Piercings im rechten Nasenflügel und in der Unterlippe.«
Sie wird uns beschrieben, weil sie auffällt wie ein Papagei im Taubenschlag. Damit wird der Unterschied zu den anderen Schülern deutlich. Wir erhalten nicht nur ein Bild von Taja, sondern auch von den Klassenkameraden.
Ach ja, welche Haarfarbe hat Taja? Welche Augenfarbe? Wie ist ihr Gesicht geschnitten, hat sie die Wimpern getuscht, sind die Augen blau oder braun, die Haare lang oder kurz, ist sie groß, mittel oder klein?
Wissen Sie nicht? Ich auch nicht. Haben Sie diese Info vermisst? Ich nicht. Die Autorin hat sich darauf beschränkt, nur die wichtigen Details zu schreiben. Den Rest darf sich jeder Leser selbst ausdenken. Die meisten sehen vermutlich ein großes Mädchen mit schwarzen Haaren vor sich. Wie ich. Die Lücken, die der Autor lässt, können die Leser füllen, dürfen sie füllen. Ein, zwei Details und schon klappt das. Beschreiben Sie nie zu viel. Gerade genug, dass der Leser ein Bild bekommt.
Witz und Bilder
Der Papagei im Taubenschlag, das Bundesverdienstkreuz, das dem Speichellecker in den Hintern geschoben wird, und andere Formulierungen sorgen für Witz. Mit Witz können Sie nicht nur Spannung erzeugen – eine andere als die Spannung durch Handlung –, Sie können vor allem mit wenigen Worten Bilder malen, die der Leser sofort begreift.
Inhalt und Klischee
Aber ist das nicht alles Klischee? Die toughe Schwarzgekleidete, die Heavy Metal hört, die braven Bübchen und Mädchen, die Helene Fischer hören?
Sicher. Ist es auch. Aber so gut geschildert, dass es wirkt. Und darauf kommt es an.
Details
Einige Details ließen sich verbessern. Auch gute Texte lassen sich noch überarbeiten. Je besser ein Text bereits ist, desto vorsichtiger sollte aber die Überarbeitung sein. Man kann Texte auch totlektorieren. Vor allem, wenn man nur nach Schreib- und Grammatikregeln vorgeht und möglicherweise die Wirkung eines guten Textes zerstört.
Hier ist ein etwas ungelenker Satz:
»Und ihr jüngerer Bruder Tom hatte unbedingt weg gewollt, weil der Verweis von seiner Berliner Schule gedroht hatte.«
„Weg gewollt“ fällt aus dem Sprachstil und klingt holprig. Das liegt auch an dem Plusquamperfekt, das man hier gar nicht benötigt. Vielleicht so:
»Und ihr jüngerer Bruder Tom wollte nur weg, nichts wie weg. Weil der Schulverweis in Berlin drohte.«
Auch dieser Satz lässt sich verbessern:
»Sie schlängelte sich durch die im Klassenraum verteilen Grüppchen hindurch bis zu dem Zweiertisch vor dem Lehrerpult.«
Da haben wir die beliebte Partizipkonstruktion, die unnötig ist. »Sie schlängelte sich durch die Grüppchen im Klassenraum«, das klingt besser. Dass die verteilt sind, kann sich jeder Leser denken.
Fazit: Sorgen Sie in Ihren Texten für eine packende Spannungskurve. Beschreiben Sie nicht alles, sondern nur das, was der Leser benötigt, damit Bilder in seinem Kopf entstehen. Und achten Sie darauf, wie Ihre Erzählstimme klingt. Passt sie zu ihrer Heldin?
Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr diesen Blog teilt, verlinkt, weiter empfehlt. Und wenn Ihr anderer Meinung seid oder etwas zu diesem Beispiellektorat beitragen wollen, scheut Euch nicht, es mir zu mailen oder zu kommentieren! Ihr könnt auch eure Texte für ein solches Beispiellektorat vorschlagen.
—
Spannung – der Unterleib der Literatur
Die hohe Kunst, den Leser zu fesseln und auf die Folter zu spannen
http://www.hanspeterroentgen.de/spannung-1