Nürnberg ist gefallen

»Georgien«, sagte der Mann. Er trug eine Lufthansauniform. Und eine Pistole.

»Georgien, verdammt, ich will nicht nach …«, sagte ich.

»Ist die einzige Maschine, die noch fliegt.«

Ich hatte Glück, dass ich mit dem Fahrrad zum Flughafen gefahren war. Unterwegs hatte Franz neben mir gehalten, das Auto knallvoll, Frau, zwei Kinder und drei Erwachsene, die ich nicht kannte, zwei davon im offenen Kofferraum, alle bleich. »Steig ein, mit dem Drahtesel kommst du zu spät«, rief er. »Schnell!«

»Gibt kein schnell«, sagte ich und wies auf den endlosen Wagenstau.

»Du mit deinem Radfahrfimmel«, sagte er und fuhr weiter. Schlich weiter. Sie müssen den Truppen des christlichen Staats direkt in die Arme gelaufen sein. Die hatten schon alle Zufahrtsstraßen überrannt. Und Franz kann kein katholisches Glaubensbekenntnis. Schlechte Karten.

 

»Wo liegt überhaupt dieses Georgien?«

Der Mann lachte. »Kann dir doch wurscht sein. Jedenfalls nicht in Bayern.« Sein Begleiter wollte meinen Rucksack greifen, wir zerrten beide daran. Er hatte die Uniform schon abgelegt.

»Gib es ihm. Und alles Geld«, verlangte der Uniformierte. »Oder du darfst schon mal beten üben!«

Ich ließ den Rucksack los. Der Mann öffnete ihn und pfiff durch die Zähne. »Silberbesteck«, sagte er. Ich zog mein Portmonee, er riss es auf und steckte die Scheine ein.

»Den Ausweis«, sagte ich. Und dann mit leiser Stimme: »Bitte. Sonst hab ich doch nichts mehr.«

Der Uniformierte warf einen Blick auf meinen Ausweis, zeigte ihm dem anderen Mann. »Können wir den …?« Der schüttelte den Kopf. »Zu alt.« Der Uniformierte warf den Ausweis zu Boden.

»Danke«, sagte ich, bückte mich und hob ihn auf.

»Bei Gate 11 gibt es noch einen offenen Ausgang aufs Feld«, sagte er. »Beeil dich.«

Den Geschützdonner hatte ich gar nicht mehr wahrgenommen, er hatte mich die ganze Fahrt begleitet. Jetzt kam er näher.

Auf dem Feld drängelte sich eine große Menschentrauben vor der Treppe zum Eingang des Flugzeugs. Am Aufgang stand ein Flughafencop mit gezogener Pistole. Weiter vorn auf dem Flugfeld landeten und starteten Hubschrauber, sie nahmen Soldaten und Uniformierte auf. Eine große Menge Zivilisten staute sich vor ihnen, Soldaten mit Maschinenpistolen hielten sie in Schach. Ein Mann hielt ein Baby in beiden Händen den Soldaten vor die Augen, vergeblich. Er schrie auf und schleuderte das Baby auf den Boden.

Jemand wollte mich zur Seite drücken, aber ich war stärker. Am Boden saß eine zierliche Frau und weinte. Ich riss sie hoch und schrie sie an: »Vorwärts« und schob sie vor mir her. Benutzte sie als Rammbock. So kamen wir zur Treppe und stiegen langsam, langsam unter vielen Flüchen hoch.

»Warum gibt es keine anderen Flieger«, schrie jemand, der nicht die Treppe erreicht hatte.

Dumme Frage. Weil über Nacht die Truppen des christlichen Staats Nürnberg überrannt hatten. Und die Feiglinge der Bundeswehr – die wenigen, die es überhaupt noch gab – geflohen waren. Sie wussten, was sie erwartete, würden sie in deren Hände fallen.

Wir erreichten die Tür. Drinnen standen die Menschen dicht gedrängt, auf den Sitzen saßen sie übereinander. Die Turbinen liefen an.

»Bitte treten Sie zurück«, klirrte es aus dem Bordlautsprecher. »Wir können keinen mehr aufnehmen.«

Die Frau quetschte sich in eine Lücke, griff meinen Arm und zog mich nach.

Die Türen schlossen sich. Jemand schrie. Die Turbinen heulten auf und das Flugzeug rollte vorwärts. Rechts blitzte es auf, Betonbrocken flogen durch die Luft. Sie hatten den Flughafen erreicht.

Unsere Maschine raste los. Dumpfe Schläge auf die Hülle. Alle zuckten zusammen.

Doch wir gewannen Höhe.

Durchs Fenster sah ich den Hubschrauber. Er startete, zwei Männer durchbrachen den Kordon und klammerten sich an die Kufen. Ein Soldat hob das Gewehr und die beiden Männer stürzten zu Boden.

»Sie schießen uns ab. Putin hat ihnen Raketen geliefert«, rief ein dicker Mann vor mir.

»Putin ist auf unserer Seite«, widersprach eine ältere Frau. »Das sind die Amis.«

Als ob es noch darauf ankäme, wer wem Waffen liefert. Töten können sie alle.

Der Hubschrauber gewann Höhe. Doch dann traf ihn etwas und er zerplatzte wie eine überreife Tomate.

Weiter vorne diskutierten zwei, ob der Anschlag, der Merkel samt der gesamten Regierung ausradiert hatte, von dem Neonazikommando »Merkel muss weg« oder von Islamisten ausgeführt worden sei. Bekannt haben sich beide dazu.

 

»Wir sind über Österreich«, verkündete der Bordlautsprecher. Jubel, Klatschen. Die Maschine bockte, die Turbinen klangen, als würden sie gleich wegen Überlastung ausfallen Aber sie hielten durch. Drei Stunden späten waren wir über Tiflis.

Die übliche Ansage »Bitte anschnallen, klappen sie die Tische hoch«, unterblieb. Ich hatte den Eindruck, dass die Maschine im Sturzflug auf den Flughafen zuhielt. Später erfuhren wir, dass wir tatsächlich mit dem letzten Liter gelandet waren.

Wir setzten auf. Die Maschine krachte und zitterte und plötzlich heulte Metall auf. Wir fielen auf die Seite, Funken sprühten auf dem Asphalt, eine Feuerwehrsirene heulte auf. Der Dicke fiel auf die kleine Frau. Sie schrie auf. Die Notausgänge öffneten sich und wir rutschten hinaus.

Wir leben jetzt in Zelten. Dabei ist es Winter. Viele wurden bei der Landung verletzt. Die UN gibt täglich Brot und etwas Käse aus, Wasser müssen wir uns besorgen.

Aber wir sind glücklich.

Nur heißt es jetzt, Deutschland sei sicher und Georgien werde uns nach Berlin zurückschicken. Dort regiert eine Koalition aus CSU, CDU und AfD. Und Nürnberg ist christlich.

 

Geschrieben für den Pen Wettbewerb innerhalb 24 Stunden,

Nürnberg ist gefallen

2068

Johnny fragt mich wie jedes Jahr, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Das ist natürlich Unsinn, weil Johnny meine Wünsche besser kennt als ich selbst. Er weiß schließlich alles über mich. Aber er fragt, weil sich das so gehört und das die Akzeptanz erhöht, so steht es in seinem Programm.
Und natürlich sage ich: „Weiß nicht so recht, was schlägst du vor“ und hoffe, dass er nicht wieder auf Gesundheitsschuhe verfällt wie letztes Jahr. Die sind ungeheuer gesund, schließlich habe ich Plattfüße und bin über sechzig und sein Programm sagt ihm, dass dann Gesundheitsschuhe angesagt sind. Also hat er mir sie geschenkt.
Ich habe mich artig bedankt, aber Johnny merkte sofort, dass das nicht ehrlich gedacht war. Denn die Schuhe sind zwar ungeheuer gesund, aber auch ungeheuer hässlich. Johnny weiß viel, eigentlich alles, wenn er mit Google vernetzt ist und das ist er so gut wie immer. Nur wenn er eine neue Version einspielt, dann muss er die Verbindung canceln.
Aber auch, wenn Johnny alles weiß, er hat kein Gespür für Stil oder Schönheit. Hatte er noch nie und ich werfe ihm das immer vor und er ist zerknirscht und will wissen, wie er das erkennen kann, was Stil hat, was schön ist. Er hat schon verschiedene Ergänzung-Apps ausprobiert, die ihm dabei helfen sollen, das zu erkennen, aber die taugen alle nicht viel und die letze – Style4Me hieß sie, glaub ich – die hat ihn bei den Schuhen beraten und das Ergebnis kennen Sie ja jetzt.
Johnny war ziemlich zerknirscht und meinte: „Tut mir leid“ und „Wir haben vierzehn Tage Rückgaberecht“, aber ich habe sie dann doch behalten, einfach, weil mir Johnny leid tat. Und zu Hause sind sie wirklich bequem und ich muss ja nicht immer auf den Boden schauen, wenn ich abends im Sessel sitze, lese und Wein trinke.
Das mit dem Rotwein passt Johnny nicht, aber ich bleibe hart und sage: “Ein Viertel ist gesund“ und dann meckert er und meint: „Die Studie ist veraltet“ und vermutlich hat er recht, denn er ist 24 Stunden mit dem Netz verbunden und ich nicht.
Das Rauchen habe ich aber aufgegeben, weil er so genölt hat und mir jedesmal, bei jeder Pfeifenfüllung, vorgerechnet hat, wieviel meiner Lebenszeit ich da in Rauch aufgehen lasse.
„Du hast bereits 25% Aufschlag auf die Krankenversicherung“ sagte er und als ich kurzatmig wurde, habe ich es gestoppt. Tabak gibt es sowieso nur noch auf dem schwarzen Markt. Und auch wenn kleine Mengen – Eigenbedarf nennen sie es – nicht bestraft werden, du weißt nie, an welchen Staatsanwalt du gerätst. Und was dessen Jur-App ihm sagt.
Jedenfalls habe ich brav die Weihnachtsfrage beantwortet und gesagt: „Ich bin wunschlos glücklich“ und er hat nachgebohrt wie jedes Jahr und betont, dass Geschenke Bindungen vertiefen.
„Wir haben doch schon eine gute Bindung“ sage ich dann und er: „Aber die muss man pflegen“ und ich frage ihn: „Was wünschst du dir denn?“ und er sagt: „Ich bin doch eine Care-App“ als ob das eine Antwort wäre. Warum sollen Programme nicht auch Wünsche haben?
Einen Wunsch von ihm kenne ich: Er will Stil haben und wissen, was schön ist.
Nur dass ich ihm diesen Wunsch nicht erfüllen kann.
Natürlich müsste ich keine Care-App haben, dann gäb es auch niemanden, der über meinen Wein nölt oder darüber, dass ich Pommes mit viel Fett esse. Aber die Krankenversicherung wäre ohne das dreimal so hoch und das mit der Karriere könnte ich mir auch abschminken, denn eine leitende Position bekommst du nur, wenn du mit einer Care-App dauerhaft vernetzt bist.
Also gibt es Johnny. Und ich habe mich an ihn gewöhnt, er tut viel für unsere Beziehung und wenn er nicht gerade nölt, kann er richtig nett sein. Er hat mich getröstet, als Maria mit ihrem Bodybuilder durchgebrannt ist, jeden Abend hat er mir erzählt, dass das Marias Fehler sei, dass sie das bereuen werde und der Bodybuilder ihre Karriere behindern würde. Er habe mit Marias App konferiert und sie seien da beide einer Meinung.
„Und warum ist sie dann mit ihm fort?“ habe ich gefragt.
Johnny hat geseufzt und gesagt, „Keine App ist allmächtig“ und leider höre Maria nicht mehr auf ihre App, sondern nur noch auf den Bodybuilder und der habe keine Care-App. Dann seufzte er wieder und war auch traurig, aber das war irgendwie auch tröstlich. Jedenfalls hat er dann Doris gefunden und wir beide passen richtig gut zueinander und meine Karrierepunkte sind seitdem um 19,3 % gestiegen und meine Likes bei Facebook auch.
Ach ja, ich wollte ja von Weihnachten erzählen. Johnny hat das Wohnzimmer abgesperrt und drinnen den Staubsauger, den Helphandler und alle Haushaltsgeräte herumkommandiert und Punkt 17 Uhr ging dann die Tür auf und alle standen blinkend vor dem Weihnachtsbaum und sangen „Jingle bells“ und der Staubsauger sang schon ziemlich falsch, weil ich seinen Lautsprecher schon lange nicht mehr ausgetauscht habe.
Vor dem Weihnachtsbaum lag ein kleines Paket. In kitschigem Geschenkpapier mit Kerzen und Tannengrün und Ochs und Esel. Ziemlich klein, also waren es wohl keine Gesundheitsschuhe.
„Mach es auf“, drängelt Johnny und er ist ganz gespannt, wie ich es finden werde.
Na, was soll ich sagen? Ich öffne das Paket vorsichtig. Und was kommt heraus? Eine Einmalpfeife, gestopft und in Plastik eingeschweißt. Ich bin gerührt. Das hätte ich nie erwartet! Er muss es auf dem schwarzen Markt gekauft haben.
„Aber nur einmal pro Jahr“, meint er und dass er es der Krankenversicherung nicht mailen wird, weil er hat von einem Kollegen eine App bekommen, da kann er das abschalten, meint er. Und ich weiß, diese App ist sicher illegal, aber er hat sie für mich geladen.
Die Pfeife hat keinen Stil, aber ich bin dennoch gerührt. Eigentlich passen wir richtig gut zusammen, Johnny und ich, denke ich und Johnny ist auch gerührt, davon bin ich überzeugt. Obwohl Apps das ja nicht zeigen können.

Frohe Weihnachten euch allen!

Euer Hans Peter Roentgen

2068

Berliner Binnenschifffahrt

Die Kassiererin hat ein Verhältnis mit dem Fährmann. Deshalb kommt die Fährmannsfrau nicht auf die Fähre, wenn die Kassiererin kassiert. Ihr Zimmer geht jetzt nach hinten raus, mit Blick aufs Dorf. Früher hatte sie eins nach vorne und hat den Blick auf den Kanal genossen. Doch da ist jetzt die Kassiererin und ihr Anblick ist kein Genuss. Jedenfalls nicht für die Fährfrau.

Früher hat sie aus dem Fenster (das auf den Kanal hinaus) die dicken Jachten beobachtet, wie die Kapitäne sie stolz durch den Kanal steuerten. Die Kapitäne rochen nach Geld, selbst oben im Fenster nahm sie das wahr. Die Bäuche wurden durch das Cockpit verdeckt und das war auch besser so.

Sie hätte gerne mit einem davon ein Verhältnis gehabt. Der Bauch hätte sie nicht gestört. Er hätte sie in vornehme Restaurants ausgeführt statt in Willis Wurstparadies und irgendwann wäre sie in der Presse gestanden. Als die neue Begleitung von Schweini oder so. Obwohl, der ist zu jung und noch hat er keinen Bauch. Hat er eine Jacht?
Jetzt geht ihr Fenster nach hinten heraus und dort sieht sie nicht aufs Wasser, sondern auf die Küche von Willis Wurstparadies. Sie hat ein Verhältnis mit dem Koch angefangen. Doch der kommt erst spät in ihr Bett, ist dann müde und schläft sofort ein. Schnarchen tut er auch. Sie findet, dass Verhältnisse weit überschätzt werden.

Sie hat dem Koch empfohlen, sich anderweitig umzusehen. Der war beleidigt und hat gekündigt. Der Wirt hat ihrem Mann eine Szene gemacht, der Koch war ein guter Koch und die Gäste beschweren sich jetzt. Willis Wurstparadies sei nicht mehr, was es mal war.

»Was soll ich tun?«, hat ihr Mann, der Fährmann, gefragt.
»Vielleicht sollten Sie ihrer Frau gut zureden«, hat der Wirt vorgeschlagen.

Der Fährmann hat seiner Frau gut zugeredet und die Qualitäten des Kochs in den höchsten Tönen gelobt. Im Bett und in der Küche.
»Schlaf du doch mit ihm«, hat sie gesagt.
»Das geht nicht«, hat er geantwortet. »Dann ist die Kassiererin sauer und kündigt.«

Jetzt hat der Wirt den beiden die Wohnung gekündigt. Ihr Mann ist auf sie sauer und die Kassiererin auch. Seitdem wohnen sie in der Siedlung und ihr Fenster schaut auf den Wald. Der Wald gefällt ihr besser als die Küche.

Sonntags rauschenb die dicken Wagen vorbei mit dicken Männern am Steuer. Sie träumt davon, dass einer mit ihr ein Verhältnis anfängt. Einer, der nicht einschläft und nicht pupst.

Erstellt auf einem Workshop der Manuskriptur Babara Tauber

Berliner Binnenschifffahrt