Lektorat und Überarbeitung: Die Erzählstimme

Was mir schnell auffällt, wenn ich einen Text erhalte: die Erzählstimme. Wird die Geschichte so erzählt, dass sie mich in den Text zieht? Oder habe ich das Gefühl, da fehlt etwas, ist etwas nicht gelungen? Oft ist es dann die Erzählstimme, die nicht passt.

Erzählstimme

Aber was ist eigentlich diese Erzählstimme?

Ich fahre mit meinem zehnjährigen Neffen und dessen Freund nach München ins Deutsche Museum. Ab und zu erzähle ich gerne Unsinnsgeschichten, jetzt auch. Und mein Neffe wendet sich an seinen Freund und erklärt stolz: „Jetzt hat Hans Peter seine Erzählstimme. Dann darfst du ihm nichts glauben.“

Ich bin nicht der Einzige, der für seine Geschichten eine eigene Stimme benutzt. Dennoch ist die Erzählstimme das Stiefkind des Handwerks. Im Internet findet sich wenig darüber.

Das lyrische Ich

Bekannt ist die Erzählstimme in der Lyrik, das „lyrische Ich“. Ein Gedicht wird nicht von dem Verfasser direkt gesprochen, sondern er benutzt eine eigene Stimme, eben das lyrische Ich. Ein Beispiel:

„Schäfers Klagelied“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Da droben auf jenem Berge,
Da steh ich tausendmal,
An meinem Stabe gebogen,
Und schaue hinab in das Tal.
Dann folg ich der weidenden Herde,
mein Hündchen bewahret mir sie.
Ich bin heruntergekommen
Und weiß doch selber nicht, wie. […]

Ganz offensichtlich ist das hier nicht die Stimme von Goethe, der ins Tal schaut. Ob der Text im Kopf der Leserinnen einen Schäfer als Erzähler wecken kann, sei mal dahingestellt.

Die Erzählstimme im Roman

Während viel über das lyrische Ich geschrieben wurde, findet man über die Erzählstimme fast gar nichts, außer einige literaturwissenschaftlichen Artikeln, die für Autorinnen und Autoren nicht sehr hilfreich sind. Und Beiträgen im Internet, in denen die Erzählstimme mit der Erzählperspektive in einen Topf geworfen wird, in der Hoffnung, dass gutes Umrühren verbirgt, dass man Unvereinbares miteinander vermischen will.

Aber jeder spürt die Erzählstimme im Buch (außer das Buch lässt einen kalt). Es gibt etwas, das uns die Geschichte erzählt: einen Erzähler. Der kann ausführlich sein, knapp, distanziert oder nah an den Figuren, er nutzt eine Erzählperspektive und einen bestimmten Stil, hat eine Wortwahl, gehobene oder Umgangssprache.

Die Erzählstimme nutzt Handwerk

Das bedeutet: Die Erzählstimme ist kein Handwerkszeug, sondern sie nutzt bestimmte Handwerksmittel. Sie wählt eine Perspektive und behält sie in der Regel bei, fokussiert eine Distanz, die wechseln kann, nutzt Stilmittel und Wortwahl, und all das dient dazu, im Kopf des Lesers die Geschichte entstehen zu lassen – und eben die Figur der Erzählstimme. Ob es eine geruhsame Stimme ist, von jemandem, der am Ofen sitzt und erzählt, oder die sehr viel emotionalere einer Teenagerin, die uns hektisch in eine Verfolgungsjagd hineinzieht: Sie bestimmt, wie die Geschichte auf uns wirkt. Und sie weckt im Leser den Film, der in seinem Kopf abläuft.

Musik

In der Musik ist es seit langem bekannt: Es kommt nicht nur auf das Stück an, sondern auch auf die Interpretation. Janis Joplin singt „Bobby McGhee“ anders als Pink oder Sheryl Crow. Warum es aber für immer mit Janis Joplin verbunden ist, diese Wirkung lässt sich nicht einfach erklären, die meisten Zuhörer können es nicht rational begründen. Da spielt viel unbewusste Assoziation mit hinein, warum die eine Fassung eine stärkere Wirkung hat als eine andere.

Auch bei den Erzählstimmen gibt es unterschiedliche Varianten. Romeo und Julia wurde mittlerweile von den verschiedensten Erzählstimmen in unterschiedlichsten Umgebungen erzählt. Von Shakespeare über Gottfried Keller bis zur Westsidestory..

Erzählstimme und Autorenstimme

Die Erzählstimme ist nicht die Autorenstimme, sondern der Autor wählt eine Erzählstimme. Tut er das nicht, merken die Leserinnen das sofort. Etwa, wenn die Geschichte einer Fünfzehnjährigen erzählt wird, der Autor aber deutlich erkennbar mit seiner fünfzigjährigen Autorenstimme erzählt.
Und damit sind wir beim Thema, warum die Erzählstimme so entscheidend ist.

Die Erzählstimme zieht den Leser in die Geschichte

Die Erzählstimme legt fest, ob ein Buch Bestand hat oder schnell vergessen wird.

Wenn du zum Beispiel die Liftsteher anschaust. Die müssen den ganzen Tag nur aufpassen, dass ihnen keiner aus dem Lift herausfällt. Tagtäglich rutschen an ihnen Tausende Schifahrer vorbei. Normalerweise fällt von denen natürlich nie einer aus dem Lift, aber wenn es einmal vorkommt, auch kein Malheur. Muss der Liftsteher zum Not-off-Schalter gehen und den Lift abstellen. Und doch keine leichte Arbeit. („Auferstehung der Toten“, Wolf Haas)

Wolf Haas hat in den Brenner-Romanen eine ganz eigene Erzählstimme geschaffen, dafür die ungewöhnliche Du-Perspektive gewählt und sogar einen eigenen Stil und Dialekt erfunden. Eine Erzählstimme muss passen: in Stil, Wortwahl, Perspektive und allem anderen.

Nehmen Sie das genau passende Wort, nicht seinen Cousin, das wusste schon Mark Twain.

Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en français d’après l’édition de Dom J. Mabillon (Aux Presses de l’Abbaye de la Source, Paris 1842). Das Buch, versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit recht dürftig waren, präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der große Gelehrte des 17. Jahrhunderts, dem wir so vieles für die Geschichte des Benediktinerordens verdanken, angeblich seinerseits im Kloster Melk gefunden hatte. („Der Name der Rose“, Umberto Ecco)

Da spricht ein Wissenschaftler zu uns, der einen aufregenden Fund gemacht hat.

Als wir den steilen Pfad erklommen, der sich die Hänge hinaufwand, sah ich zum ersten Mal die Abtei. Nicht ihre Mauern überraschten mich, sie glichen den anderen, die ich allerorten in der christlichen Welt gesehen, sondern die Massigkeit dessen, was sich später als Aedificium herausstellen sollte. Es war ein achteckiger Bau, der aus der Ferne zunächst wie ein Viereck aussah.

Hier erzählt ein jüngerer Mann über seine Wanderung. Beides stammt aus dem „Namen der Rose“.

Dieses Buch hat drei Erzählstimmen. Am Anfang steht die Stimme des Wissenschaftlers, dann die des alten Abtes, der krank ist und auf seine Jugend zurückblickt. Dann springen wir in die Vergangenheit, der junge Mönch wandert zu einer Abtei. Die Erzählstimme spricht nicht mehr über das Alter, sondern erzählt uns Ereignisse, die der junge Mann wahrnimmt und erlebt.

Ach ja, die erste Stimme des Wissenschaftlers ist eindeutig die Stimme des Autors Umberto Ecco. Hatte ich nicht gerade gesagt, dass die Erzählstimme nicht die Autorenstimme sein sollte?
Richtig. Doch wie immer gibt es Ausnahmen. Am Anfang erzählt der Autor in dem „Namen der Rose“, wie er das Manuskript findet. Und das kann nur der Autor wissen, deshalb passt hier die Autorenstimme.

Erzählstimme, Erzählperspektive und Distanz

Die Erzählstimme erzählt die Geschichte, weckt Assoziation bei den Leserinnen und lässt in deren Kopf einen Film ablaufen. Die Erzählperspektive legt fest, aus welchen Augen wir die Geschichte erleben, was wir als Leser erfahren und was nicht. Die Distanz legt fest, wie nah wir den Ereignissen und Personen sind. Sie wird nicht von der Perspektive bestimmt. Auch wenn der auktoriale Erzähler dazu verleitet, aus großer Entfernung zu erzählen, kann er ganz nah an die Figuren herangehen. Und der Ich-Erzähler erzählt meist aus geringerer Distanz, kann aber genauso aus großer Distanz erzählen.

Die Erzählstimme wählt die Erzählperspektive und die Distanz.

Genretypische Erzählstimme

Jedes Genre hat seine „übliche“ Erzählstimme. Der Detektivroman erzählt mit einer taffen Stimme, die nichts erschüttern kann: „Das Leben ist hart, und ich erzähl euch davon.“ Der historische Roman mit einer Stimme, die altertümelnd erzählt. Der Liebesroman mit einer Stimme voller Sehnsucht. Der Jugendroman – forsch, etwas ironisch.

Die Autorenstimme

Wie schon gesagt: Wenn die Autorenstimme uns etwas erklärt, statt der Erzählstimme Raum zu geben, dann merkt das der Leser sofort. Und legt das Buch bald weg. Die Erzählstimme lässt im Leser einen Film ablaufen, jede Leserin darf ihren eigenen Film erleben. Die Autorenstimme schreibt vor, wie der Film auszusehen hat, und will, dass alle den gleichen Film sehen.

Mäandernde Erzählstimme

Haben Sie sich schon mal auf den ersten Seiten eines Buches gefragt: „Was will mir der Erzähler eigentlich erzählen?“ Das passiert, wenn der Autor noch nicht genau weiß, was eigentlich Thema und Konflikt seiner Geschichte sind. Dann springt er vom Hölzchen zum Stöckchen, präsentiert uns Lesern verschiedenste Konflikte oder Erklärungen, nach dem Motto: „Viel hilft viel.“
Da hilft nur eins: sich auf eine Sache konzentrieren.

Schwankende Erzählstimme

Eigentlich ist das, was erzählt werden soll, spannend. Nur leider eiert es wie ein Rad mit einem Achter. Die Erzählstimme wirkt nicht, sie wechselt die Perspektive oder wählt die falsche, benutzt unterschiedliche Sprachebenen, schildert alles aus gleichbleibender Distanz. Ähnlich wie die mäandernde Erzählstimme verliert sie bald die Spannung. Und das, obwohl sie sich auf eine Sache konzentriert.

Wenn das passiert, lohnt es sich, den Text neu zu schreiben. Mit der gleichen Handlung, aber anderem Handwerkzeug. Versuchen Sie es mit der Ich-Perspektive, wenn es vorher die allwissende Perspektive war, mit einer anderer Sprachebene (Umgangssprache? literarisch?). Oft wirkt es besser, wenn Sie näher an die Figuren herangehen. Legen Sie dann beide Fassungen nebeneinander. Wo ist die neue Fassung besser, zieht den Leser mehr rein, lässt in dessen Kopf einen Film ablaufen?

Aufgabe

Nehmen Sie eine Szene, die Sie geschrieben haben. Schreiben Sie sie neu, mit einer anderen Perspektive und aus unterschiedlicher Distanz. Legen Sie beide nebeneinander. Welche Unterschiede nehmen Sie wahr? Welche Version wirkt besser?

Nicht jeder kann jede Erzählstimme

Eine befreundete Autorin, Ute Apitz, erzählt meist in einer Erzählstimme mit Berliner Dialekt. Mich faszinieren diese Geschichten in berlinernder Stimme. Einmal las sie eine Geschichte auf Hochdeutsch vor. Allgemeines Gähnen. Dann hat sie die Geschichte ins Berlinerische gewandelt. Prompt haben alle gespannt zugehört. Obwohl es die gleiche Handlung war. Nicht jede Erzählstimme passt zu jeder Autorin.

Die Erzählstimme legt das »Wie« fest, nicht das »Was«

Der Plot beschreibt die Handlung. Aber wenn zwei Autoren mit unterschiedlicher Erzählstimme erzählen, wirkt die Handlung trotzdem ganz unterschiedlich. Möglicherweise wirkt die eine Fassung langweilig, die andere zieht den Leser in die Geschichte hinein. Oft ist es die Erzählstimme, der den Unterschied zwischen einer Durchschnittsgeschichte und einer Geschichte begründet, die lange im Gedächtnis bleibt und von vielen gelesen wird. Und wie in der Musik wirkt die Stimme oft unbewusst und entzieht sich der rationalen Erklärung. Nicht für alles gibt es Schreibregeln.

Fazit

Achten Sie auf Ihre Erzählstimme. Welches Handwerkszeug benutzt sie? Wie wirkt sie, wenn Sie das Handwerkszeug wechseln?

Links und Literatur

Schatten auf Schnee, Barbara Slawig, https://www.barbara-slawig.de/blog/ex.php?/topic/20031-erz%C3%A4hlstimme/&tab=comments#comment-337248

Erzähler und Erzählstimme in: Martin Huber & Wolf Schmid (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen, De Gruyter 2018

Der Erzähler, das lyrische Ich und ich

https://www.kapiert.de/deutsch/klasse-5-6/lesen/umgang-mit-literarischen-texten/gedichte-untersuchen-das-lyrische-ich/

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