Lektorat: Prolog oder erstes Kapitel?

Erinnern Sie sich noch an den Auszug aus dem Text „Der Staatsanwalt“, den ich im Blog lektoriert habe? Der Staatsanwalt erhält einen Drohbrief und erlebt einen Alptraum, in dem seine Freundin gequält und vergewaltigt wird.

Die Autorin hat mich wegen meines Lektorats angeschrieben und eine Frage gestellt.

„Das mit dem Einstieg in die Geschichte haben wir über eine Art Prolog vor dem ersten Kapitel gelöst, in dem der Drohbriefschreiber der Freundin des Protagonisten auflauert. Wir sind uns aber unsicher, ob das ein guter Weg ist, da Prologe häufig als überflüssig empfunden werden. Würde es sich aus Ihrer Sicht eher anbieten, diesen dann als erstes Kapitel zu nehmen oder das als Prolog zu belassen, da es vor der eigentlichen Geschichte spielt?“

Weil diese Frage für viele interessant sein dürfte, will ich sie hier beantworten. Und Sie können mir auch eine Frage schicken, wenn Sie gerne etwas wissen wollen (hpr@textkraft.de).

Das Wort „Prolog“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Vorwort“. In Romanen ist es entweder eine Szene vor der eigentlichen Romanhandlung oder ein Vorwort des Autors zu seinem Roman.

Wenn der Drohbriefschreiber vor dem Drohbrief an den Staatsanwalt der Freundin auflauert, ist das die Szene, die die Geschichte in Gang setzt, also kein „Vorwort“ oder eine „Vorgeschichte“, sondern die erste Szene.

Aber natürlich gibt es die gute Regel, so spät wie möglich in die Geschichte springen. Vielleicht doch eine andere Anfangsszene wählen?

Nein. Denn wenn der Bösewicht der Freundin auflauert, tritt er real auf. In der Szene mit dem Drohbrief oder dem Alptraum ist er nicht selbst anwesend. Ein Grund, warum ich die Szene, in der der Bösewicht der Freundin des Staatsanwalts auflauert, für den besten Anfang halte.

Natürlich ohne lange Vorrede. Nicht erzählen, wie die Freundin sich für Ihre Joggingtour anzieht. Nicht, wie sie ihre Tour plant. Sondern wie sie und der Bösewicht aufeinandertreffen. So spät wie möglich in die Szene.

„Der Mann trug eine dunkle Motorradmaske. Sogar die Stirnpartie war bedeckt, nur zwei Löcher ließen die Augen frei. Nikki drehte sich um und wollte zurücklaufen. Doch hinter ihr stand die gleiche Gesichtsmaske. Und bevor sie nach dem Pfefferspray greifen konnte, hatte der Mann ihr den Arm schon hinter dem Rücken verdreht.“

Prolog oder kein Prolog

Prologe werden oft überlesen. Weil sie nicht zur Geschichte gehören und die Leserinnen die Geschichte auch ohne Prolog verstehen.

Eine Zeitlang waren Prologe dennoch bei Selfpublishern und Verlagen beliebt. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass viele Romane keinen Prolog benötigen.

Wann ist ein Prolog sinnvoll?

Wenn Sie eine Szene oder ein Ereignis haben, das vor der eigentlichen Geschichte liegt, das den Leser fesseln kann, dessen Bedeutung sich aber erst im Laufe der Geschichte zeigt, dann kann ein Prolog sinnvoll sein.

Welche Prologe sind abschreckend?

Es gibt eine ganze Reihe Fälle, bei denen die Delete-Taste für den Prolog das Mittel der Wahl ist

  • Wenn Sie sich verzweifelt überlegen, was für einen Prolog Sie schreiben sollen.
    Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass Ihre Geschichte keinen braucht.
  • Wenn der Autor glaubt, er müsse dem Leser vorab etwas zur Geschichte erklären.
    Eine Geschichte muss sich selbst erklären. Wenn sie das nicht tut, hilft nur eins: überarbeiten.
  • Wenn der Autor ein Vorwort schreiben will
    Viele glauben, dass ihr Roman mit einem Vorwort besser und bedeutungsvoller wird. Das stimmt für Sachbücher. Nicht für Romane. Wie Sie auf die Idee zu Ihrer Geschichte gekommen sind, warum Sie sie geschrieben haben, welche historische Hintergründe der Roman hat, weiterführende Literatur: All das dürfen Sie in einem Nachwort erläutern.
  • Wenn der Autor die Geschichte mit Bedeutung aufladen will
    Deutschlehrer lieben es, die Bedeutung einer Geschichte ausführlich zu diskutieren. In Aufsätzen werden Schüler darauf gedrillt. Da werden bedeutungsschwangere Sätze gedrechselt, bombastische Formulierungen sollen die Geschichte mit Bedeutung aufladen. Oft produziert so etwas unfreiwilligen Humor. Und es verbessert Ihre Geschichte nicht, sondern qualifiziert sie ab.
  • Wenn der Autor seiner Geschichte nicht traut
    Autorinnen zweifeln gerne an ihren Geschichten. Und dann wollen sie sichergehen und schreiben einen Prolog. Aber wenn die Geschichte den Leser nicht fesselt, nützt der beste Prolog nichts. Dagegen kann ein schlechter, langweiliger Prolog einer guten Geschichte erheblich schaden.

Literatur

Sol Stein, über das Schreiben, Autorenhaus Verlag
Prologe: Wann Sie nützen, wann sie schaden
https://hproentgen.wordpress.com/2015/10/02/prologe-wann-sie-nuetzen-wann-sie-schaden/

Schicken Sie mir vier Seiten Ihres Textes (hpr@textkraft.de) und mit etwas Glück bespreche ich ihn hier im nächsten Blog

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Lektorat: Prolog oder erstes Kapitel?

2 Gedanken zu “Lektorat: Prolog oder erstes Kapitel?

  1. Alle meiner bisherigen vier Bücher fangen mit einer kurzen Vorgeschichte an, mit einer eigenen Überschrift. Ich habe sie nicht „Prolog“ genannt, ŵeil sie kein Vorwort, sonder ein wichtiges „Vorab-Element“ der eigentlichen Geschichte sind. Nach diesem, nennen wir es „Intro“, fängt die Geschichte mit dem ersten Kapitel an.

    Ich habe viele Bücher gelesen, die mit einem aktionsreichen, auch mal blutigen Prolog anfingen, musste dann in den meisten Fällen feststellen, dass ich darauf hätte verzichten können, weil sie für die Geschichte selbst eigentlich überflüssig waren. Solche „sexy“ Prologe mag ich gar nicht. Sie dienen nur dazu „spannende erste Seiten“ zu schreiben, in der Hoffnung, dass der Leser das Buch kauft.

    Vielen Dank, lieber Hans-Peter, dass du auf das Thema Prolog hingewiesen hast.

    Frank Eldering

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