Lektorat: Wann in die Geschichte springen

Wieder hat mir eine Leserin einen Romananfang geschickt, mit der Bitte, ihn zu lektorieren. Herzlichen Dank dafür. Und wenn Sie auch Ihren Romananfang hier lektorieren lassen wollen, schicken Sie ihn mir. Max. 7.000 Anschläge, es kostet nichts und alle meine Vorschläge dürfen Sie für Ihren Text benutzen

Potsdam Innenstadt, Staatsanwaltschaft, Büro 2.08:
Montag, 25. November, 6.53 Uhr

Sehr geehrter Mr. Collins,

wie mir aus verlässlicher Quelle bekannt ist, planen Sie, ein Ermittlungsverfahren gegen mich anzustreben. Davon würde ich Ihnen jedoch dringend abraten. Wie Sie sich sicher denken können, ist Freiheit das höchste Gut für mich. Um nicht zu sagen, kostbar. Darum bitte ich Sie, von Ihrem Vorhaben abzusehen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Andernfalls werde ich Ihnen alles nehmen, was Ihnen lieb und kostbar ist. Sind Sie bereit, diesen Preis zu zahlen?

Mit besten Grüßen,
Ihr Doctor No

P.S. Eine hübsche Freundin haben Sie da. Rothaarig, hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. 😉

Collins stützte das Gesicht in die Hände und massierte sich die Nasenwurzel. Warten war grausam. In vielerlei Hinsicht.
Er dachte an den Alptraum von letzter Nacht zurück. An die Schreie. Das Blut. Ihr angstverzerrtes Gesicht. In seiner Laufbahn als Staatsanwalt hatte er schon vieles an den Tatorten zu sehen bekommen. Nur war sie nie Teil davon gewesen.
Es war nur ein Traum, schalt er sich schließlich und atmete tief durch. Was jetzt zählte, war Handeln.
Er legte den Brief beiseite. Der erste Zug war getan. Musste getan werden, korrigierte er sich verbissen. Es war zum Wohle aller gewesen. Nur auf den Einsatz hätte er gern verzichtet.
Während er aufstand, um eine neue Kanne Tee aufzusetzen, klingelte sein Telefon. Kriminalhauptkommissar Hatzenböller. Das wurde aber auch Zeit. Er stellte die Teekanne auf dem Tisch ab und nahm an.
„Guten Morgen, Herr Staatsanwalt!“, grüßte die Männerstimme am anderen Ende fröhlich. „Auch schon wach?“ „Das kann man so sagen.“ Collins sank auf seinen Stuhl zurück und rieb sich die Augen. Wie hätte er nach dieser Drohung auch ruhig schlafen können?

Andernfalls werde ich Ihnen alles nehmen, was Ihnen lieb und kostbar ist.
Kostbar. Er dachte an Emmelines friedliches Atmen neben seinem Ohr, die Wärme ihrer Haut. Seit sie wieder in sein Leben getreten war, war ihr Leben das Kostbarste für ihn. Und der Verdächtige wusste das. Seine letzten Zeilen hatten das mehr als deutlich gemacht.
„Wie ist die Lage?“
„Wir konnten den Tatverdächtigen festsetzen und festnehmen“, verkündete die Stimme feierlich. „Die Wohnung haben wir auch durchsucht.“
„Und?“
„Na ja, er wohnt recht modern, so richtig spießig mit Garten und …“
„Ich meine, was Sie und Ihre Kollegen dort gefunden haben!“
„Ach so – ja. Also, was das betrifft: Die Angaben scheinen sich zu bestätigen. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass er etwas mit der Tat zu tun hat. Wir haben ihn überprüft. Seine Kollegen sagen ihm einen perfekten Ruf nach. Hat Familie, Frau, zwei Kinder, sogar einen Hund. Allerdings scheinen die wohl gerade nicht da zu sein. Jedenfalls haben wir niemanden weiter angetroffen. Dieser Hund, das ist vielleicht ein Vieh, kann ich Ihnen sagen … “
Collins unterdrückte ein Stöhnen. Natürlich. Das wäre ja auch zu einfach gewesen.
„Ist Ihnen dennoch etwas Verdächtiges aufgefallen?“, unterbrach er das Geplapper seines Kollegen.
„Aber ja.“ Hatzenböllers Stimme hellte sich auf. „Eine gepackte Reisetasche. Die stand in der Ecke seines Schlafzimmers.“
„Also könnte man annehmen, dass er vorhatte, sich in den nächsten Tagen abzusetzen?“
Der Hauptkommissar brummte unschlüssig. „Das ist schwer zu sagen. Auf dem Kalender in der Küche stand, dass er in den nächsten Tagen auf einen Kongress wollte. Chirurgen ohne Grenzen oder so was.“
Ein Wolf im Schafspelz also, dachte Collins zynisch und wie zur Bestätigung überkam ihn ein heftiger Niesanfall. An der Sache war definitiv etwas faul.
„Sie werden doch wohl jetzt nicht etwa krank?“, scherzte Hatzenböller.
„Staub“, erwiderte Collins schlicht und schenkte sich eine Tasse Schwarztee ein, mit der üblichen Menge Milch, Zucker und einer frisch aufgeschnittenen Zitronenscheibe. Er nahm einen Schluck. „Wo sind Sie jetzt?“
„Auf der Wache. Wir verbringen den Tatverdächtigen soeben in eine Zelle. Sie müssen nur noch den Haftantrag stellen, dann sollte morgen alles wie geplant laufen.“
„Lovely.“ Wenigstens eine Sache, die heute funktionierte. „Und die andere Angelegenheit, um die ich Sie gebeten hatte?“
„War da noch etwas?“
„Miss Brooks?“, erinnerte er ihn und mahnte sich, ruhig zu bleiben. Gutes Personal war schwer zu finden. „Ist für ihre Sicherheit gesorgt?“
„Oh ja.“ Jetzt schien es dem Hauptkommissar wieder einzufallen. „Sie können ganz unbesorgt sein“, versicherte er gewichtig. „Die Kollegen Lange und Kurtz werden sich immer in ihrer Nähe aufhalten und dafür sorgen, dass ihr nichts passiert.“
„Richten Sie ihnen bitte aus, dass sie auf Abstand bleiben sollen. Miss Brooks darf nichts davon mitbekommen.“ Collins hegte noch immer ein schlechtes Gewissen, dass er Emmeline nicht in sein Vorhaben eingeweiht hatte. Aber zum einen unterlag der Sache noch strengster Geheimhaltung – Gefährdung des Ermittlungszwecks, wie es in der Juristensprache hieß -, zum anderen wollte er ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten. Am Ende lief sie ihm deshalb noch erst recht direkt in die Arme.
„Wird erledigt!“, entgegnete Hatzenböller ergeben. Trotz der frühen Stunde schien er nur so vor Energie zu strotzen.
Collins, der ihn sich in solchen Momenten immer als einen salutierenden Soldaten vorstellte, lächelte. Kompetenz hin oder her, auf eine solche schwänzelnde Loyalität durfte er sonst nur bei einem Labrador vertrauen. „Passen Sie auf sich auf.“
„Sie auch. Oh – ich muss dann weiter. Ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt. Adios!“ Ein Klicken war zu hören, dann nur noch das Rauschen einer leeren Leitung.
Auch Collins legte auf und blickte dann seufzend auf den riesigen Aktenberg, der noch vor ihm lag. In den letzten Tagen hatte er die Arbeit vernachlässigt, aber es half nichts. Heute würde er wohl wieder eine Spätschicht einlegen müssen, wenn er nicht in Verzug geraten wollte. Ein langer Abend stand ihm bevor. Das war so sicher wie der Urteilsspruch am Ende einer Verhandlung.

Lektorat

Was hat Sie am meisten angesprochen im obigen Text?

Bei mir war es der Dialog am Schluss. Der hat Pfiff, ist anschaulich, witzig und führt uns in die Situation ein.

Eine Verhaftung und die Hausdurchsuchung hat nichts ergeben. Vermutlich wird der Haftrichter am nächsten Tag den Häftling freilassen, und der Kommissar drückt sich um eine klare Aussage. Der Staatsanwalt muss sie ihm aus der Nase ziehen.

Doch wie sieht es mit der Bedrohung am Anfang aus?

Logik reicht nicht

Die Bedrohung lässt sich logisch nachvollziehen. Aber sie weckt kaum Emotionen. Das liegt einmal an der Formulierung des Briefes. Denken Sie daran: Staatsanwälte erhalten öfter Drohbriefe. Und dieser deutet nur an: „Vielleicht könnte Ihrer neuen Freundin etwas passieren, wenn Sie mich in Haft nehmen.“

Natürlich weiß jeder, dass es eine Drohung ist. Aber haben Sie das Gefühl, bei diesem Drohbrief läuft es ihnen kalt den Rücken herunter?

Mir nicht. Da wir noch nicht wissen, um welchen Fall es geht, um welchen Mann, wirkt die Drohung nicht. Und das hat einen weiteren Grund.

Show, don‘t tell.

„Zeigen, nicht behaupten“, das ist eine wichtige Regel beim Schreiben.

Zeigen Sie einen Soldaten, der in den Schützengräben den Horror des Ersten Weltkriegs erlebt. Das spricht die Gefühle der Leser an, die mit dem Buch „Im Westen nichts Neues“ den Ersten Weltkrieg miterleben.

Behaupten Sie nicht: Im Ersten Weltkrieg starben Millionen Soldaten unter unmenschlichen Bedingungen. Das ist ein logischer Satz über den Ersten Weltkrieg, gut für ein Sachbuch, aber nicht für einen Roman. Denn es spricht nicht die Gefühle des Lesers an.

Und der Drohbrief an den Staatsanwalt ist eine Behauptung. Warum sollte man sie ernst nehmen?

Zwei schwache Konflikte machen keinen starken

Dann kommt der Alptraum des Staatsanwaltes. Der soll die Bedrohung verstärken. Aber auch er ist nicht anschaulich, sondern behauptet, dass es ein gruseliger Traum war. Zwei schwache Bedrohungen sind nicht besser als eine.

Anders in dem Buch „Der Pate“. Da wird geschildert, wie der Pate einen Produzenten zwingt, seinen Freund in einen Film aufzunehmen. Dafür lässt der Pate ihm den Kopf seines Lieblingspferdes aufs Bett legen. Und das wird anschaulich beschrieben. Außerdem wissen wir bereits, wozu dieser Pate fähig ist.

Was könnte hier im obigen Text eine anschauliche Bedrohung sein? Vielleicht ein kleiner Totenkopf in der Handtasche der Freundin? Oder einer, der an dem Rückspiegel in ihrem Auto hängt? Denn dass der Brief uns Leser nicht schaudern lässt, liegt daran, dass wir den Fall, um den es geht, und den Mann, der gerade verhaftet wurde, noch nicht kennen. Ginge es um einen Mordfall, in dem ein Kronzeuge bestialisch ermordet wurde und hätten wir die Brutalität des Paten hier anschaulich erlebt, sähe das anders aus.

Womit in die Geschichte einsteigen?

So spät wie möglich in die Szene rein, so früh wie möglich raus: „enter late, leave early“, kurz gesagt: ELLE. Das ist ein guter Wahlspruch von Drehbuchautoren.

Die meisten Romananfänge, die mir zugesandt werden, beginnen zu früh, und der Text wird deutlich besser, wenn man die ersten Absätze streicht und gleich in die Handlung springt.

Hier ist das Gegenteil der Fall. Wir müssten den Fall kennen, orientiert sein. Erlebt haben, was der Täter angerichtet hat, damit wir uns vorstellen können, wie die Drohung auf den Staatsanwalt wirkt, damit ein Schauder den Rücken herabläuft.

Aber bei der Überarbeitung eines Textes gibt es immer mehrere Möglichkeiten. Wir könnten auch die ELLE-Regel benutzen. Und mit dem Dialog beginnen, die Drohung später einbauen. Denn der Dialog passt.

Resümee

„Show, don’t tell – zeigen, nicht behaupten“, das ist eine gute Regel nicht nur im Krimi.

So spät wie möglich in die Szene springen, so früh wie möglich raus (ELLE).

Der Leser muss orientiert sein, was der Konflikt ist, muss ihn spüren.

Wenn eine Bedrohung keine Emotionen auslöst, rettet eine zweite Bedrohung im gleichen Stil das nicht.

Testen Sie einen Romananfang, indem Sie den ersten Absatz streichen. Oft wird der Text dann besser.

Literatur

– Hans Peter Roentgen, Was dem Lektorat auffällt, Sieben Verlag
https://shop.autorenwelt.de/products/was-dem-lektorat-auffallt-von-hans-peter-roentgen?variant=39454298898525

– Kathrin Lange, Plotten für Chaoten,
https://plottenfuerchaoten.substack.com/

Schicken Sie mir vier Seiten Ihres Textes (hpr@textkraft.de) und mit etwas Glück bespreche ich ihn hier im nächsten Blog

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