Personen und Diversity recherchieren

„Sensitivity-Writing“ ist das neue Schlagwort. In Romanen tauchen fast immer weiße Personen aus dem Bildungsbürgertum auf. Sonderlich verwunderlich ist das nicht, die meisten Autorinnen und Autoren stammen aus dieser Gruppe und kennen sich dort aus. Schon Frauen aus dieser Gruppe sind in Romanen und Filmen seltener als Männer, geschweige denn Angehörige von Minderheiten.

Und wenn Personen aus anderen Gruppen die Buchseiten bevölkern, dann tun sie es oft als Klischees, als Marionetten. Der Deutschtürke, der seine Schwester ehrenmordet, die Hure mit dem goldenen Herzen, der Polizist mit rechtsradikalen Foren-Beiträgen, der Kripokommissar, der ein Alkoholproblem hat und bindungsunfähig ist, der Schwarze, der Drogen dealt, etc. pp.

Doch es gibt nicht erst seit gestern sehr viel mehr Menschen in Deutschland, sehr viel mehr Gruppen und sehr unterschiedliche Meinungen in diesen Gruppen. Autoren, die sich auf Klischees beschränken, lassen sich viele Möglichkeiten entgehen, ihre Geschichten mit Leben zu erfüllen.

Schwarz-Weiß-Malerei ist nicht spannend.

Doch wie bekommen Sie neue Ideen, eine anschauliche Wahrnehmung von Gruppen, zu denen Sie normalerweise keinen Kontakt haben?

Beobachten Sie Menschen. Was arbeiten sie, wie arbeiten sie? Gehen Sie mit offenen Augen durch die Stadt. Sie werden immer wieder neue Entdeckungen machen.

Fragen Sie Menschen

Menschen reden gerne über ihre Situation. Sie erfahren eine Menge, was Ihre Texte nicht nur diverser macht, sondern auch spannender.

Beratung durch Interessengruppen

Viele Interessenvertretungen kann man anfragen, vielleicht ein Interview oder einen Tag mit den Menschen bekommen. Eine Kollegin von mir hat sich bei der Bundeswehr mal eine Führung durch eine Kaserne geben lassen. Sie hat einfach dort angerufen. Und der Kommandant der Raumstation wurde dadurch richtig lebendig. Nicht mehr ein Stinkstiefel wie in vielen deutschen Romanen und auch kein strahlender Held wie in vielen amerikanischen, sondern ein lebendiger Mensch. Die Geschichte wurde dadurch sehr viel spannender.

Mittlerweile gibt es auch Foren und Gruppen, die Sensitivity-Reading anbieten, die Manuskripte lesen und die Autoren auf Fehler, Vorurteile und Probleme hinweisen.

Facebook & Co

Egal, ob gebildete Marokkaner, Kripobeamtinnen oder Hacker, sie alle haben Facebookgruppen. Und dort erfährt man eine Menge.

Nehmen Sie Menschen ernst

Sie werden bald entdecken, wie viele unterschiedliche Menschen es in Deutschland gibt. Nicht nur bezüglich der Hautfarbe, auch bezüglich sozialer Herkunft, sozialer Schicht, Herkunft der Eltern und, und, und.

Der lateinamerikanische Student, der ein Fan der deutschen Sturm-und-Drang-Zeit ist und nach Deutschland zum Studium kommt. Voller Erwartung, dass seine Mitstudenten diese Sturm-und-Drang-Zeit lieben und kennen. Und entdecken muss, dass die meisten keine Ahnung davon haben.

Der alte Türke, der nach Deutschland kommt, weil seine Kinder und Enkel hier leben, der aber nicht die Hände in den Schoß legen will, seine uralte riesige Nähmaschine mitbringt und sich einen kleinen Laden mietet, um weiter zu schneidern, obwohl er längst im Pensionsalter ist. Aber man muss was zu tun haben, sagte er mir.

Nicht alle haben die gleiche Meinung

Ich erlebe es oft, dass weiße Deutsche aus dem Bildungsbürgertums fest davon überzeugt sind, zu wissen, was Angehörige anderer Gruppen fühlen und denken. Was sie verletzt. Aber so wie indigene Deutsche nicht alle die gleiche Meinung haben, so gilt das auch für Minderheiten.

Oft sprechen indigene Deutsche von Islamophobie, sobald jemand Kritik an konservativen Islamisten übt. Sorry, sage ich. Suchen Sie im Internet mal Diskussionsgruppen von Muslimen. Sie werden feststellen, dass diese ganz unterschiedliche Meinungen haben bezüglich des Islam. Vom ultraharten Islamisten, den Frauen ohne Schleier beleidigen, über den liberalen Muslim, der nur lacht, wenn man ihn fragt, ob er seine Tochter verheiraten würde, bis hin zu Atheisten, die einen Hass auf Koran und Islam haben.

Daneben gibt es natürlich auch andere gängige Klischees und Vorurteile. Die Millionärsgattin hat Depressionen und nimmt Valium. Der Deutschtürke hat die Schule nicht geschafft. Seine Tochter hat er zwangsverheiratet. Der Kripobeamte ist Single und psychisch defekt.

Wir Angehörigen des deutschen Bildungsbürgertums haben oft ein festes Bild von Gruppen, die wir nicht kennen. Alle sind gleich, alle meinen das Gleiche. Kein Wunder, wenn dann in den Büchern immer nur Stereotype auftreten.

Nicht-Diabetiker nennen Diabetiker oft „Menschen mit Diabetes“ und glauben, dass sie diese besonders einfühlsam benennen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich hasse das, wenn Nichtdiabetiker besser zu wissen glauben, wie Diabetiker angesprochen werden wollen. Die meisten hassen wie ich den Begriff „Mensch mit Diabetes“ und fühlen sich verarscht. Gleiches gilt auch für Autistinnen, wie ich erfahren habe. Natürlich gibt es auch einige, die diese Begriffe verwenden, sie sind aber in der Minderheit. Wie gesagt, nicht alle Angehörige einer Minderheit sind gleich, denken das Gleiche, leben auf die gleiche Art und Weise.

Diversität bietet Konflikte und unterschiedliche Perspektiven

Jeder kennt den Tatort aus Münster. Mit dem arroganten Professor und dem prolligen Kommissar. Sehr schematisch, kein Zweifel, die wenigsten Professoren werden nur Wein trinken und Golf spielen, die wenigsten Prolls nur Bier trinken und als Couchpotato nur Fußball gucken.

Aber schon in diesem Fall resultiert Spannung und Witz aus der unterschiedlichen Weltsicht und dem unterschiedlichen Lebensstil.

Sehr viel ernster handelt das der Oscargewinner „The Green Book“ ab. Ein erfolgreicher afroamerikanischer Musiker aus New York will Anfang der Sechziger eine Tour durch die Südstaaten machen. Damals war dort noch die Rassentrennung üblich. Er engagiert einen italoamerikanischen Rausschmeißer aus einem Nachtclub als Fahrer. Hier prallen gleich verschiedene Gegensätze aufeinander. Der gebildete Afroamerikaner, Angehöriger der Intelligenz der Ostküste, der eher prollige Italoamerikaner, heute würde man ihn „bildungsfern“ nennen. Unterschiede in Bildung, Unterschiede in der Hautfarbe — und dann noch eine Reise durch eine Gegend mit strikter Rassentrennung. Ich kann den Film nur jedem empfehlen.

Diverse Meinungen

Meinungsfreiheit hat einen großen Vorteil und ist deshalb ein Erfolgsmodell. Weil unterschiedliche Menschen ihre unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen einbringen. Weil damit Einseitigkeit vermieden wird. Auch in der Tierwelt ist die Entwicklung von Individuen ein großer Fortschritt für die Tiere gewesen. Selbst in früheren Zeiten gab man den Fürsten den Rat: Suche dir Ratgeber mit unterschiedlichen Meinungen. Leider haben sich die meisten nicht daran gehalten.

Ein ganz einfaches Beispiel, das ein Botanikprofessor mal erzählt hat. Er traf auf einer Konferenz einen Manager einer Chemiefirma, der ihm berichtete, dass die Chemiker der Firma schon viele Millionen ausgegeben hatten, um herauszufinden, warum Unkrautvernichter das Unkraut angreifen, nicht aber das Getreide. Da müsse es doch einen chemischen Unterschied zwischen beiden geben.

„Das kann ich Ihnen sagen“, sagte der Botaniker. „Getreide sind Einkeimblättrige. Die meisten Unkräuter Zweikeimblättrige. Und daraus folgt …“ Und er konnte das Rätsel lösen.

Menschen sind oft der Weltsicht ihrer Gruppe verhaftet. In sozialen Netzwerken bilden sie schnell Filterblasen. Und nehmen nur noch wahr, was ihre Gruppe wahrnimmt. Firmen mit Führungskräften aus unterschiedlichen Gruppen sind deshalb erfolgreicher.

Als Metro Goldwyn Mayer „Quo Vadis“ verfilmte, suchten sie einen Schauspieler für den Kaiser Nero. Peter Ustinov bewarb sich. Er sei zu jung, glaubte die Filmgesellschaft. „Bald werde ich zu alt sein“, erwiderte Ustinov und die erstaunten Filmleute mussten erkennen, dass sie zwar viel Geld für Recherche ausgegeben hatten, aber einfach davon ausgegangen waren, dass Nero ein alter, weißer Mann gewesen sei – doch das stimmte nicht.

Moral und bessere Texte

Oft wird moralisch argumentiert, Autoren MÜSSTEN diverser schreiben, das sei für Minderheiten wichtig. Sie werden gemerkt haben, dass ich kaum auf Moral eingegangen bin. Auch wenn es sicher richtig ist, dass wir heute in einer sehr diversen Gesellschaft leben und es nur gut ist, wenn Romane das widerspiegeln.

Ich halte es für wichtiger, zu betonen, dass Texte besser werden, wenn Sie sich um mehr Diversität bemühen, Klischees vermeiden. Dann werden Sie auch Verletzungen von Minderheiten vermeiden. Wenn Sie während des Schreibens hingegen nur noch daran denken, niemanden zu verletzen, können schnell blasse, inhaltsleere Romane entstehen. Wer nichts tut, macht nichts falsch. Wer nicht schreibt, ebenfalls.

Aber was wäre, wenn Harriet Becher-Stowe „Onkel Toms Hütte“ nicht geschrieben hätte, aus Angst, Afroamerikaner zu verletzen? Sie hätte die Verletzungen durch die Sklaverei den weißen Amerikanern nicht nahe gebracht.

Was wäre gewesen, wenn der deutsche Afrikaforscher Nachtigall nicht den Horror der Sklavenjagden im Inneren Afrikas beschrieben hätte, aus Angst, Schwarze zu verletzen? Die meisten weißen Europäer hätten nichts davon erfahren, denn die Sklaven konnten diesen Horror nicht schriftlich festhalten.

Mir scheint es wichtiger, Menschen wahrzunehmen, als verzweifelt darauf zu achten, dass man niemanden verletzt. Marius Jung hat in „Singen können die alle“ beschrieben, wie es ihn als schwarzen Deutschen oft nervt, wenn Gesprächspartner nicht normal mit ihm reden, sondern herumstottern, in dem Bemühen, ja keine falschen Worte zu verwenden.

Habt Mut

Liebe Autorinnen und Autoren, habt also den Mut, die Vielfalt in Deutschland wahrzunehmen und in Romanen zu schildern. Sowohl die Vielfalt der Deutschen wie die Vielfalt der Meinungen. Und lasst das die Leserinnen und Leser auch in euren Romanen erleben.

Was dem Lektorat auffällt
was Sie immer schon mal über Lektorate wissen wollten, das Buch

Impressum   Datenschutz  Homepage Hans Peter Roentgen Newsletter

Personen und Diversity recherchieren