Sieben Vampir-Verben, die Texten die Kraft rauben

Kennen Sie Hilfsverben?

Natürlich. Das sind Verben, die immer mit anderen zusammen auftreten. Sein, Haben, werden und so.

Es gibt eine Gruppe von Verben, die ebenfalls meist mit anderen zusammen auftreten. Sie selbst haben keine Kraft und saugen die Kraft der anderen Verben aus. Vampir-Verben eben. Autorinnen und Autoren verwenden sie gerne, wenn sie schreiben und ihnen nichts Besseres einfällt.

Das ist im ersten Entwurf okay. Da geht es darum, erst einmal voran zu schreiben, nicht stundenlang über die richtige Formulierung zu brüten.

Bei der Überarbeitung sollten Sie aber überlegen, ob sie diese Verben-Vampire nicht besser streichen. Dazu brauchen Sie nicht mal Knoblauch und auch kein Kreuz. Die Delete-Taste reicht.

Und welche Verben sind das? Hier stelle ich sie vor:

1. Anfangen

»Er fing an, zu laufen.« Laufen ist ein inhaltlich starkes Verb, das Bilder wecken kann. Anfangen ist schwach, irgendwann fängt natürlich alles an. Aber muss man das auch sagen? Besser: »Er lief los.«

Dann kann Anfangen nicht mehr anfangen, dem Verb laufen das Blut auszusaugen.

2. Beginnen

Beginnen ist der Cousin von Anfangen. Auch den kann man beginnen zu streichen Oder besser gesagt: Man kann ihn streichen.

3. Versuchen

»Er versuchte, den Wagen zu starten. Der Motor sprang an, aber der Wagen fuhr nicht.« Versuchen Sie besser, ohne Versuchen auszukommen: »Er startete den Wagen, der Motor sprang an, aber das Auto fuhr nicht an.«

Wie bei allen Vampir-Verben gibt es Stellen, da sind Vampire nützlich.

Er versuchte, den Motor zu starten. Doch der röchelte nur.

Da schwächt Versuchen das Verb starten zu recht. Hier passt es, dem Verb Starten die Kraft zu nehmen.

4. Bekommen

»Ich bekam eine Gänsehaut, die mir den Rücken hinablief.«

Die Gänsehaut könnte auch direkt den Rücken hinunterlaufen: Eine Gänsehaut lief mir den Rücken hinab.

Bekommen ist nicht das typische Vampir-Verb, oft bekommen Texte das auch ohne dazugehöriges Verb hin, dem sie die Kraft rauben. Weil bekommen selbst aber wenig Kraft hat, ist es auch hier bei der Überarbeitung gut, sich zu überlegen, ob es nicht stattdessen ein stärkeres Verb gibt.

5. Spüren

»Er spürte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte«
Auch da saugt das Vampir-Verb Spüren die Kraft aus dem beschleunigten Herzschlag. Spüren steht im Hauptsatz, ist also das Wichtigste. Und raubt dem wirklich wichtigem – dem beschleunigtem Herzschlag – die Kraft.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, das hat mehr Blut und Kraft.

6. Scheinen

Alles schien sich zu verändern und das Licht schien zu erlöschen.

Fassen Sie Mut, liebe Autorin, lieber Autor. In der ersten Fassung weiß man noch nicht sicher, was passiert, da verwendet man gerne »scheinen«. Bei der Überarbeitung sollte man klar sagen, was Sache ist. Erlischt das Licht oder erlischt es nicht? Wenn Sie es nicht wissen, wer dann? Solche Konstruktionen scheinen dem Leser ein Zeichen dafür zu sein, dass der Autor sich nicht festlegen will.

Das Licht erlosch langsam, alles veränderte sich, da wird der Szene nicht das Blut ausgesaugt, sie bleibt lebendig.

7. befinden

»Er befand sich in einem Wald voller Gefahren«, »Die Reise befand sich in der kritischen Phase«.

Da wird zwar keinem Verb das Blut ausgesagt, besonders lebendig klingt der Satz dennoch nicht. »Befinden« ist ein sehr statisches Verb, erinnert an Beamtendeutsch. »Immer wieder knackten Zweige und liessen ihn zusammenfahren. Gab es hier Schneelöwen? Vermutlich« hat mehr Blut als im Wald befindliche Gefahren.

»Der Täter befand sich in alkoholisiertem Zustand« kann sich in einem Polizeibericht befinden, in einem spannenden Roman sollte der Autor aktiver formulieren.

»Mark wankte, er hatte dem Eisbier mehr zugesprochen, als gut für ihn war« klingt doch etwas lebendiger.

Weitere Vampir-Worte

Welche Vampir-Worte kennen Sie, lieber Leser? Worte, die dem Text das Blut aussagen, ihm die Kraft rauben? Schreiben Sie es in den Kommentaren. Teilen Sie es mir mit. Teilen sie es mit Kolleginnen und Kollegen.

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Sieben Vampir-Verben, die Texten die Kraft rauben

6 Gedanken zu “Sieben Vampir-Verben, die Texten die Kraft rauben

  1. Mir würden als Vampir-Verben noch die typischen Sinneseindrücke einfallen: sehen, hören, fühlen, (riechen, schmecken). „Sie sah / hörte, wie drei bedrohliche Gestalten auf sie zukamen.“ Warum nicht gleich „Drei bedrohliche Gestalten kamen auf sie zu?“ Ich muss aber selber gestehen, dass ich diese Vampir-Verben viel zu häufig verwende. 😀

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  2. Alexander Cien schreibt:

    All dies und mehr beim Meister in Reiners „Stilfibel“ und umfangreicher der „Stilkunde“ nachzulesen. Beide Werke stammen aus einer Zeit, als es noch nicht hunderte Schreibratgeber gab. Und Wolf Schneider haut den Schreibern auch heute noch humorvoll auf die Finger.

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