Drei Lektoratsfassungen

Auch Lektoren benötigen Lektorate und Testleser. Und was dabei herauskommt, möchte ich euch an einem Beispiel zeigen. Ich hatte eine Szene für mein Romanprojekt „Stimmen“ geschrieben, eine Geschichte über einen Jungen der depressiv wird. Und die erste Fassung sah so aus:

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Das Krankenhaus war ein riesiger Betonklotz mit einem bisschen Grün davor. Und einem Eingang mit Glastüren. Opa musste hier gestorben sein, aber damals durfte ich nicht mit. „Das ist nichts für Kinder“, meinte Mama, obwohl ich bettelte. „Nachher hast du nur Alpträume.“ Erwachsene denken immer, sie müssten alles von Kindern fernhalten.
Zur Beerdigung durfte ich mit. Dabei hätte ich ihn gerne noch mal lebendig gesehen. Ein Trauerredner erzählte über Opa, einer, der er ihn nie gekannt hatte. Eine Blaskapelle spielte und später sagte Mama, dass sie „Ich hatt‘ einen Kameraden“ gespielt hatten. „Alles alte Kriegskameraden“, fügte sie hinzu und schüttelte sich. „Dabei ist der Krieg fünfzig Jahre vorbei.“
Am Grab konnte ich nicht weinen. Überhaupt nicht und ich war auch nicht traurig. Das war nicht normal, dass ich nicht am Grab weinen konnte, das wusste ich, ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Dabei hatte ich Opa geliebt!
Das Totenessen war in Opas Haus. Alle Leute saßen an dem Tisch im Esszimmer. Opas großer Lehnstuhl, auf dem er immer am Tischende gesessen hatte, war fort, damit mehr Platz am Tisch war. Viele Menschen, die meisten kannte ich nicht, drängten sich um den Tisch. Da, als sein Stuhl weg war, an dem er immer saß, da bin ich aufs Klo gerannt und habe geheult. Weil ich plötzlich gemerkt hatte, er ist jetzt fort und ich werde ihn nie wiedersehen. Und die Leute waren am Grab ernst und jetzt wurden sie fröhlich. Und ich saß auf dem Klo und heulte.

Und jetzt habe ich eine Aufgabe für Sie
Übung: Nehmen Sie Bleistift und Papier und schreiben Sie auf, wie dieser Text auf Sie wirkt. Ohne lange zu überlegen. Ohne Ausflüge in die Literaturwissenschaft.

Meine Lektorin Sonja Puras schrieb mir dazu:
„So, wie du die Opa-Situation beschreibst, wirkt sie auch einfach nicht. „Bin aufs Klo gegangen zum Heulen“ berührt schon deshalb nicht, weil „Heulen“ ein abwertendes Wort ist. Details könnten das spannend machen, menschlich wie literarisch.“

Zu karg also. Weckt wenig Bilder. Ich höre auf meine Lektorin. Jedenfalls meistens. Und deshalb gab es einen zweiten Entwurf:

2

Das Krankenhaus war ein riesiger Betonklotz mit einem bisschen Grün davor. Und einem Eingang mit Glastüren. Opa musste hier gestorben sein, aber ich durfte nicht mit.
„Das ist nichts für Kinder“, meinte Mama, obwohl ich bettelte. „Nachher hast du nur Alpträume.“
Erwachsene denken immer, sie müssten alles von Kindern fernhalten, und sie haben immer Sprüche, um das zu begründen. Irgendwo muss es einen Sprücheladen geben, aus dem sie ihre beziehen.
Zur Beerdigung durfte ich mit. Dabei hätte ich ihn gerne noch mal lebendig gesehen. Stattdessen lief ich in einer langen Reihe schwarz gekleideter Gestalten hinter der Urne mit seiner Asche her. Ich war auch ganz in Schwarz, Mama hatte mir am Tag vorher einen neuen Anzug gekauft. Obwohl der alte Blaue mir noch gepasst hätte, den ich immer in die Kirche trug.
Diese kleine Urne war alles, was von Opa geblieben war. Von dem Mann, der mir die Welt erklärte, wenn ich es wollte, aber nicht auf mich einredete, wenn ich es nicht wollte.
Ein Trauerredner erzählte über Opa, einer, der er ihn nie gekannt hatte. Eine Blaskapelle spielte, sie spielte langsam und immer langsamer und es waren ja auch alles alte Männer. Später sagte Mama, dass sie „Ich hatt‘ einen Kameraden“ gespielt hatten. „Alles Kriegskameraden“, fügte sie hinzu und schüttelte sich. „Dabei ist der Krieg fünfzig Jahre vorbei.“
Am Grab konnte ich nicht weinen. Überhaupt nicht und ich war auch nicht traurig. Mama weinte, Papa schnäuzte sich immer wieder und wischte sich die Augen. Meine Tante weinte und andere auch. Nur ich nicht. Dabei hatte ich Opa geliebt! Das war nicht normal, dass ich nicht am Grab weinen konnte, das wusste ich.
„Du hast geweint“, sagte ich auf dem Rückweg zu Mama.
„Ja“, sagte sie. „Und du nicht.“
„Jungs weinen nicht“, sagte Papa und schnäuzte sich.
Das Totenessen war in Opas Haus. Alle Leute saßen an dem Tisch im Esszimmer. Opas großer Lehnstuhl, auf dem er immer am Tischende gesessen hatte, war fort, damit mehr Platz am Tisch war. Viele Menschen, die meisten kannte ich nicht, drängten sich um den Tisch. Da, als sein Stuhl weg war, an dem er immer saß, da bin ich aufs Klo gerannt und habe geweint. Weil er fort war und ich ihn nie wiedersehen würde. Den Mann, der mich letztes Jahr gefragt hatte: „Was wünschst du dir zu Weihnachten?“
Und ich sagte: „Die schwedischen Schnellzuglokomotive.“
„Das ist ja ein großes Geschenk“, sagte er. „Das kann man nicht auf einmal bekommen. Da gibt es erst mal die Räder, die sind bei Lokomotiven ja riesig.“
Ich musste lachen, aber fragte mich, würde er sie mir schenken?
Zwei Wochen später bekam ich eine Erkältung: Und im Bett versuchte ich mir aus Pappe Räder, Sichtfenster und anderes auszuschneiden, weil ich daran dachte, was er mir gesagt hatte.
Und die Leute, die am Grabe geheult oder ernst geschaut hatten, wurden beim Essen fröhlich. Und ich saß auf dem engen Klo und weinte. Ich war nicht normal. Opa hatte mir mal erzählt, dass er hier ab und zu geraucht hätte, als der Arzt ihm das Rauchen verboten hatte und er nicht widerstehen konnte.

Übung: Nehmen Sie wieder Bleistift und Papier und schreiben Sie auf, wie Fassung 2 auf Sie wirkt. Ohne lange zu überlegen. Ohne Ausflüge in die Literaturwissenschaft.

Sie ahnen es vermutlich schon: Meine Lektorin ist nie zufrieden und sagte:
„Ja, das ist schon viel besser. Es wird zwischen den Zeilen deutlich, dass du nicht nur um den Opa weinst, sondern auch, weil du so allein bist. Die anderen weinen und essen gemeinsam, du stehst außerhalb und spürst, dass du deinen Opa nur sehr ausschnitthaft kanntest. Das überträgt sich und könnte verstärkt werden, indem du den verschwundenen Lehnstuhl durch ein, zwei beschreibende Details „anleuchtest“.
Grundsätzlich erzählst du für meinen Geschmack zu detailarm. Was hattest du an auf der Beerdigung, war es schwarz, unbequem, roch nach Mottenkugeln? Wie viele Leute sind auf der Beerdigung, wie viele Bläser? Wie viele Kränze liegen da? Ist es ein Sarg oder eine Urne? Was gibt es zu essen, kannst du was essen? Wie sieht das Klo bzw. Bad aus?
Du könntest alles noch deutlich lebendiger machen. Den Film ablaufen lassen. Denk an Nabokovs göttliches Detail.“

3


Das Krankenhaus war ein riesiger Betonklotz mit einem bisschen verhungertem Grün davor. Und einem Eingang mit Glastüren. Opa musste hier gestorben sein, aber damals durfte ich nicht mit hinein. „Das ist nichts für Kinder“, meinte Mama, obwohl ich bettelte. „Nachher hast du nur Alpträume.“
Erwachsene denken immer, sie müssten alles von Kindern fernhalten, und sie haben immer Sprüche, um das zu begründen. Irgendwo muss es einen Sprücheladen geben, aus dem sie ihre beziehen. Ein Sprücheladen nur für Erwachsene, die sie benötigen, um Kinder still zu halten. Noch heute reagiere ich allergisch, wenn jemand solche Sprüche benutzt.

Zur Beerdigung durfte ich mit. Dabei hätte ich Opa gerne noch mal lebendig gesehen.
Ein Trauerredner erzählte über Opa, einer, der er ihn nie gekannt hatte. Eine Blaskapelle spielte, sie spielte langsam und immer langsamer und es waren ja auch alles alte Männer. Später sagte Mama, dass sie „Ich hatt‘ einen Kameraden“ gespielt hatten.
„Alles Kriegskameraden“, fügte sie hinzu und schüttelte sich. „Dabei ist der Krieg fünfzig Jahre vorbei.“
Am Grab konnte ich nicht weinen. Überhaupt nicht und ich war auch nicht traurig. Mama weinte, Papa schnäuzte sich immer wieder und wischte sich die Augen. Meine Tante weinte und andere auch. Nur ich nicht. Dabei hatte ich Opa geliebt! Das war nicht normal, dass ich nicht am Grab weinen konnte, das wusste ich.
„Du hast geweint“, sagte ich auf dem Rückweg zu Mama.
„Ja“, sagte sie. „Und du nicht.“
„Jungs weinen nicht“, sagte Papa und schnäuzte sich.
Das Totenessen war in Opas Haus. Alle Leute saßen an dem Tisch im Esszimmer. Opas großer Lehnstuhl, auf dem er immer am Tischende gesessen hatte, war fort, damit mehr Platz am Tisch war. Viele Menschen, die meisten kannte ich nicht, drängten sich um den Tisch.
Da, als sein Stuhl weg war, an dem er immer saß, da bin ich aufs Klo gerannt und habe geweint. Weil er fort war und ich ihn nie wiedersehen würde. Den Mann, der mich letztes Jahr gefragt hatte: „Was wünschst du dir zu Weihnachten?“
Und ich sagte: „Die schwedische Schnellzuglokomotive.“
„Das ist ja ein großes Geschenk“, sagte er. „Das kann man nicht auf einmal bekommen. Da gibt es erst mal die Räder, die sind bei Lokomotiven ja riesig.“
Ich musste lachen, aber fragte mich: Würde er sie mir schenken?
Zwei Wochen später bekam ich eine Erkältung. Im Bett versuchte ich mir aus Pappe Räder, Sichtfenster und anderes auszuschneiden, weil ich daran dachte, was er mir gesagt hatte. Und ich versuchen wollte, mir eine Lokomotive und Wagen zu bauen. Das schaffte ich natürlich nicht.
Die Leute, die am Grabe geheult oder ernst geschaut hatten, wurden beim Essen fröhlich. Und ich saß auf einem engen Klo und weinte. Ich war nicht normal. Opa hatte mir mal erzählt, dass er hier ab und zu geraucht hätte, als der Arzt ihm das Rauchen verboten hatte und er nicht widerstehen konnte. Das Klo hatte ein kleines Kippfenster.


Übung: Nehmen Sie Bleistift und Papier und schreiben Sie auch für die dritte Fassung auf, wie sie auf Sie wirkt.
Und ich habe zweite Aufgabe für Sie.
Übung: Drucken Sie alle drei Fassungen aus. Markieren Sie die Stellen, die unterschiedlich sind. Und schreiben Sie auf, was diese Unterschiede Ihrer Meinung nach bewirken.

Nein, ich will Sie nicht quälen. Aber am meisten lernen Menschen (auch ich) durch Beispiele anderer.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim eigenen Überarbeiten und dass Sie tolle Testleser und Lektorinnen finden mögen.

Und ich freue mich, wenn Sie Ihre Meinung in die Kommentare schreiben über die drei Fassungen.
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Drei Lektoratsfassungen

2 Gedanken zu “Drei Lektoratsfassungen

  1. Gleich bei der ersten Fassung dachte ich beim Lesen, dass es mehr in Richtung mehr Spürbares gehen müsste, mehr Intimes, die Kamera ganz nah dran. Als dann der Vorschlag der Lektorin kam, war ich also nicht überrascht.

    Aber immer, wenn ich solche Gedanken habe, frage ich mich, ob das wirklich eine Verbesserung ist oder nur eine wertfreie Veränderung, eine Neuausrichtung des Textes. Was dem Werk gut tut, kann mal so und mal so sein. Die distanzierte, sachliche Beschreibung oder das abwertende Heulen kann den Konflikt zeigen, den die Figur ausficht, weil sie das Trauern noch nicht gelernt hat, weil sie ihre Emotionen nicht versteht oder verdrängt. Gerade Kinder sind da oft unvorhersehbar und in ihrer Selbstwahrnehmung nochmal um so mehr.

    Ich müsste mehr vom gesamten Text lesen, um hier besser einschätzen zu können, welche Version ich klar besser finde. So sind die Fassungen für mich Varianten über ein Thema, die alle ihre Daseinsberechtigung haben könnten – eben je nach dem Drumherum. Insofern hilft es mir tatsächlich, wenn jemand anders da eine klare Richtung vorgibt.

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